Die letzte Aussage
Archie, als seine Mutter in der Küchentür auftaucht und ruft: »Einen Augenblick, Ty. Kommst du mal bitte?«
Ich überlege, ob ich mich auf höfliche Weise aus der Affäre ziehen kann, aber mir fällt nichts ein, also gehe ich ihr hinterher, in die Küche. Dort sitzen Helen, Marina und Elizabeth. Sie haben eine Flasche Weißwein aufgemacht. »Setz dich«, sagt Archies Mutter, rückt ihren eigenen Stuhl an den Tisch und nimmt einen großen Schluck Chardonnay. Ich setze mich. »Jetzt musst du uns rasch erzählen«, sagt Archies Mutter, »wer diese Tess eigentlich ist. Wie ernst ist es Danny mit ihr?«
Ich will gerade etwas antworten, da legt Helen einen Arm um mich. »Schon gut«, sagt sie. »Du musst daraufnicht antworten. »Der arme Danny hat drei sehr neugierige Schwestern.«
»Nein, ist schon okay«, erwidere ich. »Sie ist seine Mitbewohnerin … Untermieterin … und er hat gesagt, dass sie ab und zu was miteinander haben. Eigentlich eher selten. Aber wenn sie sauer auf ihn ist, dann … also dann fängt er wieder mit ihr an, damit sie nicht mehr sauer ist, glaube ich. Sie arbeitet beim Fernsehen.«
Alle glotzen mich schweigend an.
»Dann wohnen sie also zusammen?«, fragt die von der BBC. Marina.
»Schon, aber es gibt noch eine Mitbewohnerin, die heißt Lucy. Und er ist … ähm … na ja … mit ihr auch zusammen, aber das weiß Tess nicht. Und ich glaube, dass es noch ein anderes Mädchen gibt, seine Assistentin oder so, die er vielleicht auch … ich weiß nicht … Tess hat so was angedeutet …«
Jetzt lachen alle. Sogar Helen. Ich spüre, wie mein Gesicht ganz heiß wird, aber dann sagt Elizabeth: »Vielen Dank, Ty, wir haben uns schon Sorgen gemacht, dass sie ihre Krallen in ihn geschlagen hat, aber wie es aussieht, hat er sein Heil in der Vielfalt gesucht.«
Auf einmal geht es mir wieder gut. Es ist fast so wie zu Hause bei Gran und Mum und Louise und Emma, wenn sie sich über die Details des Liebeslebens von irgendjemandem unterhalten. Das gleiche Lachen. Der gleiche Weingeruch.
»Sagt ihm bloß nicht, dass ich das verraten habe«, sage ich.
Archies Mutter schüttelt den Kopf: »Keine Sorge, wir wollen ihn nicht gleich wieder verscheuchen.« Dann gießen sie ihre Gläser wieder voll, und ich verdrücke mich nach oben, ehe sie irgendwas über meine Mum fragen können.
Eigentlich bin ich Tess ganz dankbar dafür, dass sie heute aufgekreuzt ist. Aus verschiedenen Gründen geht es mir gerade ziemlich gut.
Aber ich weiß, dass das nicht so bleiben wird. Denn in wenigen Wochen muss ich vor Gericht erscheinen und dort meine Geschichte erzählen.
Kapitel 41
Engel
Auf dem Dach steht ein Engel. Er trägt ein wallendes Gewand und leuchtet im Morgennebel. Seine Flügel kann ich nicht sehen, aber so etwas wie einen Heiligenschein, Strahlen, die von seinem leuchtenden Kopf ausgehen. Ich frage mich, ob ich der Einzige bin, der ihn sehen kann. Vielleicht war’s das ja. Ich bin endgültig hinüber. Übergeschnappt.
Er bewegt sich kein bisschen – ach, es ist eine Statue. Klar. Hab ich doch gleich gewusst. Pfft! Die Figur hat ein Riesenmesser in der Hand – eigentlich ist es ein Schwert – und in der anderen so ein merkwürdiges Ding: eine Tasche … oder eine Waage? Als ich aus dem Auto steige, soll ich eigentlich möglichst schnell durch die Tür, die für mich aufgehalten wird. Stattdessen bleibe ich auf dem nassen Bürgersteig stehen und blicke nach oben zu der seltsamen Gestalt. Dem Todesengel.
Patrick schiebt mich vorsichtig weiter. »Komm schon, Ty. Geh rein.«
Heute ist der Tag, den ich nicht erleben sollte. Heute ist der Tag, an dem ich die Wahrheit sagen muss. Die ganze Wahrheit. Nichts als die Wahrheit. Heute ist derTag von Arrons Verhandlung, Jukes’ Verhandlung, Mikeys Verhandlung. Heute ist der Tag der Gerechtigkeit für Rio und seine Familie. Ich bin der einzige Zeuge, der mit eigenen Augen gesehen hat, was passiert ist. Heute ist es so weit.
Ich weiß nicht, ob ich das hinkriege. Kann ich meine Meinung noch ändern oder ist es dafür jetzt zu spät?
Meine Mum wollte mich begleiten, aber das Baby soll in einem Monat zur Welt kommen, und ihre Hebamme meinte, dass lange Fahrten und der Stress keine gute Idee seien. Angeblich ist ihr Blutdruck ein bisschen hoch. Ich weiß nicht genau, ob der Blutdruck hoch oder niedrig sein soll, aber so, wie Gran sie in letzter Zeit umsorgt hat, ist der hohe Blutdruck bestimmt nicht so gut. Mein Dad ist immer noch in New York.
Also hat Patrick die
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