Die letzte Dämmerung: Roman (German Edition)
davonlaufen, wenn er wollte. Aber vielleicht würde er bleiben.
Das tat er auch. Argwöhnisch.
»Ich habe dich nicht gefragt, ob du Hilfe brauchst«, sagte Mason. »Ich habe dich gefragt, ob du verletzt bist, weil ich mir Sorgen mache. Wenn du jemanden mit einem Verbandskasten sehen würdest, würdest du dieselbe Frage stellen.«
Tru machte den Mund auf, wie um zu widersprechen, und senkte dann den Blick. »Na und?«
»Also sag’s mir.«
Er erkannte Trus Reaktion: Freundlichkeit wirkte auf den Jungen wie Cheddar in einer Mausefalle. Bevor Mason zum Militär gegangen war, war er genauso misstrauisch geworden, als Mitch ihm aus keinem erkennbaren Grund hatte helfen wollen. Leute boten einem nicht einfach etwas umsonst an.
Aber wenigstens schien Tru darüber nachzudenken, welche Optionen er hatte. Er sackte gegen die nächste Wand und glitt zu Boden. Dann knöpfte er, während seine Augen in eine undeutliche mittlere Entfernung starrten, eine makellose weiße Manschette auf und rollte den Ärmel bis zum Ellenbogen hoch.
Mason schluckte und warf einen Blick auf den Verbandskasten, den er immer noch in der Hand hielt. »Darf ich mir das ansehen?«
Tru hatte den Blick abgewandt, nickte aber.
Mason ging einfach zu ihm hinüber und kniete sich hin. Vielleicht würde diese direkte Vorgehensweise von Mann zu Mann dem Jungen einen Fetzen Stolz bewahren.
Aber die Verletzungen, die er vorfand, waren nicht die klaffenden, ungezielten, blutigen Risse, die Hundekrallen hinterließen. Stattdessen führten an der Innenseite von Trus Unterarm in regelmäßigen Abständen wie Leitersprossen ein Dutzend Rasiermesserschnitte empor, die alle verschorft waren. Zwei oder drei waren von einer Schicht hellgrünen Eiters verkrustet.
Das Gefühl, ein Déjà-vu-Erlebnis zu haben, lief Mason die Wirbelsäule hinunter. In der Hütte hatte er gewusst, dass der Junge sich selbst verletzte. Aber woher? Abgesehen von Klischees und Katastrophenszenarien – woher hatte er es gewusst ?
»Normalerweise kann ich sie sauber halten.« Trus Stimme klang erstickt. Alle Ecken und Kanten seines schmalen Körpers verrieten äußerste Demütigung. »Aber in letzter Zeit nicht mehr. Und ich wusste nicht, was der Dreck aus der Grube anrichten würde, verstehst du?«
»Ja. Sieht der linke Arm genauso aus?«
Tru rollte den anderen Ärmel hoch und streckte beide Arme aus wie ein Krimineller, der damit rechnet, Handschellen angelegt zu bekommen. »Ziemlich krank, was?«
»Wir haben alle unsere Bewältigungsmechanismen. Du kannst es selbst erledigen, oder ich kann dir helfen. Deine Entscheidung.«
Tru musterte den Verbandskasten, den Mason in der Hand hielt, und nickte dann. Es war zugleich eine Erlaubnis und eine stumme Bitte.
Mason arbeitete schweigend und säuberte die Schnitte mit Desinfektionsmittel. Obwohl der Junge gelegentlich zusammenzuckte, sagte er kein Wort. Kein Zischen vor Schmerz. Stolz war ein erstaunliches Betäubungsmittel. Dann trug Mason die Antibiotikasalbe auf, legte einen Verband aus Mullbinden an und beschäftigte sich dann damit, den Verbandskasten zu schließen, während Tru sich die Manschetten wieder zuknöpfte und so den Tatort verbarg.
»Wo ist deine Rasierklinge jetzt?«, fragte Mason leise.
»Willst du sie etwa beschlagnahmen?« Der Junge hatte seine Rüstung wieder angelegt, war aufgestanden und sah finster drein. Aber ein Großteil seines Sarkasmus war verschwunden. Er wirkte beinahe erleichtert.
Mason zuckte die Schultern. »Nein. Es ist deine Entscheidung.«
»Gut.«
»Aber tust du mir einen Gefallen?«
Tru blieb stehen, wandte sich aber nicht von seinem Fluchtweg durch den Omegagarten ab. Er stand einfach mit hängenden Schultern da und wartete auf die Strafpredigt und die unausweichlichen Vorwürfe. Gott, wie jung er war! Mason hatte das Bedürfnis, das Arschloch, das ihm dieses Zusammenschrecken anerzogen hatte, mit einem Tritt zu Boden zu strecken.
»Was?«
»Wir sind hier nur zu sechst, oder? Jenna, ich, eine Mami und ihr Kind, ein nervöser Wissenschaftler – und die haben nicht gerade das Zeug zu einer erstklassigen Kampftruppe. Wir brauchen dich, und du musst bei guter Gesundheit sein.« Er hielt inne und hoffte, dass seine stumme Bitte zu Tru durchdringen würde. »Verstanden?«
Tru atmete langsam ein und stand nicht mehr wie ein geprügelter Hund da. Er sah Mason in die Augen und bedachte ihn mit einem dreckigen Grinsen. »Verstanden. Aber das heißt auch, dass du die Finger vom Hasch
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