Die letzte Dämmerung: Roman (German Edition)
Mason. Wenn er sie zu einer Jurte am Polarkreis mitgenommen hätte, wäre das ihr Zuhause gewesen.
Sie warfen einen letzten Blick in den verlassenen Baumarkt und schlossen dann die Türen auf. In die Kälte hinauszutreten traf sie wie ein Stiefeltritt ins Gesicht. Der Schnee knirschte, und der Wind pfiff schneidend in heftigen Böen. Nachdem sie die Drogerie auf der anderen Seite des Parkplatzes geplündert und die Last auf ihren Rücken vergrößert hatten, plante Mason ihren Rückweg. Er hielt die ganze Zeit über nach Schwierigkeiten Ausschau, aber die Straße war nur von gefrorenen Leichen gesäumt. Sie kamen auf dem vereisten Pflaster gut voran und kehrten bald in die Wälder zurück.
Mason legte ein hohes Tempo vor, aber Jenna hatte keine Schwierigkeiten mitzuhalten. Energie durchströmte sie. Sie fühlte sich wie neugeboren, wie ein Schmetterling, der aus seiner Puppe hinausgeglitten war. Fünfunddreißig Kilometer waren nichts. Verdammt, vielleicht würde sie rennen. Da sprach wohl die Schokolade zum Frühstück aus ihr, aber sie freute sich beinahe auf die Wanderung. Wenigstens würde sie bei ihm sein.
John.
»Ich kann spüren, dass du an mich denkst.«
»Ist das schlimm?«
Seine Stimme grollte leise. »Nein. Das ist … gut.«
Sie gingen weiter. Der Himmel hatte sich über ihnen zu einem strahlenden Blau erhellt. Es drohte kein Schneefall, und noch nicht einmal die winterlich kahlen Bäume wirkten heute düster. Eiszapfen hingen wie Kristallornamente von ihren langen, eleganten Ästen und ließen eine Symphonie aus Splittern klirrend zu Boden prasseln, wann immer der Wind sie zum Tanz aufforderte. Wenn Freude eine Farbe gewesen wäre, die ihre Haut hätte annehmen können, hätte Jenna geglüht. Sie betrachtete Masons Rücken und erinnerte sich, wie es gewesen war, ihren Mund über seine Haut gleiten zu lassen, dort Trost zu spenden, wo sich vorher nur Narben befunden hatten.
Tief in Tagträumen versunken hörte sie nichts, bis die Bestie aus dem Unterholz hervorsprang und ihr die Zähne in den Oberschenkel grub.
30
Der Zorn verlieh Mason mehr Kraft, als er sie sich je zugetraut hätte. Er landete rittlings auf dem Monster, packte es an der Schnauze, riss es hoch und zurück. Aber die Zähne des Ungeheuers hielten fest, sein Kiefer war blockiert. Jenna schrie. Ihre Hände drückten gegen den mageren, räudigen Brustkorb.
»Mach die Augen zu!«
Sie gehorchte, schlang die Unterarme ums Gesicht und drehte sich weg. Mason hielt den Dämonenhund mit den Knien fest und ließ dann die Hand zurückgleiten, bis er die Augenhöhlen fand. Zweimal gab nasses Mus unter seinen Fingern nach. Das Geschöpf heulte. Sobald es die Zähne aus Jennas Fleisch gelöst hatte, zerrte Mason es von ihrem Körper und schleuderte es in den Schnee. Vier knochige Beine strampelten himmelwärts. Dann pustete Mason ihm mit seiner Neun-Millimeter-Pistole das Gehirn heraus.
Der Schuss hallte wider und verklang, bis nur noch ihr Atmen übrig war. Mason wischte sich die Hände an den Jeans ab und zog an Jennas Arm. Steh auf. Keine Pause. Nicht jetzt. Es würden noch mehr kommen.
»Ich kann nicht.«
»Komm schon, Schätzchen.« Er würde ihr Bein einfach nicht ansehen. Wenn er nicht hinschaute, konnte er den Biss nicht sehen.
»Ich meine es ernst, John. Ich kann nicht … Hör auf!«
Sie zog ihrerseits an ihm, bis er neben ihr auf dem verschneiten Boden landete. Unmittelbar vor seinen Augen lag das zerfetzte, blutende Fleisch ihres Oberschenkels. Bisswunden. Das Zeichen des Todes. Übelkeit riss ihm ein Loch in den Bauch, aber er würgte sie herunter.
Sie sagten nichts, aber ihre Emotionen prallten im Zentrum seines Gehirns aufeinander. Sie weinte; er tobte. Schmerz spaltete ihm den Schädel, eine Mischung aus Trauer und der Verzweiflung, die Jenna ausstrahlte. Sie waren einander tagelang so nah gewesen, hatten sich einander vollkommen geöffnet. Jetzt wurden ihre Qual und Furcht zu seinen, prägten ihn, zeichneten ihn. Er legte sich die Handflächen von beiden Seiten an den Kopf und drückte.
Um nicht dem Wahnsinn zu verfallen, verschloss er seinen Verstand.
Als er die Augen öffnete, konnte er endlich Geräusche von Gedanken trennen. Jenna weinte stumm. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, und die Haare klebten ihr an den Wangen. Ihr rechtes Bein war vom Knie bis zur Hüfte blutverschmiert, ihre Jeans zerfetzt.
»Jenna«, sagte er mit Nachdruck. »Beweg es. Sofort.«
Er stand auf und riss ihr den Rucksack von den
Weitere Kostenlose Bücher