Die letzte Dämmerung: Roman (German Edition)
Schmerzen durch ihren Oberschenkel. Von weiter vorn ertönten ein dumpfes Geräusch und ein Ächzen, als wäre er hingefallen.
»John, wo bist du?«
Sie kam zum Rand einer flachen Schlucht und hörte ihn außer Sichtweite an ihrem Grund fluchen. Er war abgestürzt. In der Ferne rauschte fließendes Wasser – vielleicht der Fluss, der die Generatoren speiste.
»Kannst du mich hören?«, rief sie.
Die Flüche verklangen. Jenna hörte ihn antworten. Seine Stimme kam von Westen und aus einiger Entfernung. Sie folgte dem Pfad und unterdrückte ein Stöhnen. Ihr Oberschenkel brannte. Mason hatte aufgewühlten Schnee hinterlassen, aber sie konnte nicht auf demselben Weg hinuntergelangen.
Atme. Das hier ist nicht das Ende. Du kannst ihn finden.
Und wenn auch aus keinem anderen Grunde so doch, um Abschied zu nehmen. Wenn sie auch nur noch einen einzigen Kuss bekam, würde sie glücklich sterben.
Die Erinnerung an die erlebten Genüsse durchlief sie prickelnd. Im Osten erklang Geheul, und sie kämpfte sich durchs Unterholz, suchte nach einem anderen Weg nach unten. Aber vielleicht war sie in diesem endlosen Winter allein, umgeben von toten Bäumen und widernatürlichen Monstern. Vielleicht hat er beschlossen, den Abschied kurz zu machen.
Nein, John würde sie nie verlassen.
Konzentrier dich. Finde ihn.
Jenna beruhigte ihren Verstand und versuchte, sich seinen Gedanken zu öffnen, aber er hatte unmittelbar nach dem Biss begonnen, ihr den Zugang zu verwehren. Ihre Verbindung zu kappen musste es für ihn erträglicher gemacht haben – und wer war sie, ihm das zu missgönnen? Aber das Schweigen erschwerte es, ihn aufzustöbern.
Jenna …
Verzweifelte Furcht. Ein Aufblitzen von Wärme. Verlangen.
Nachdem sie einen weniger steilen Weg abwärts gefunden hatte, versuchte sie hinunterzuklettern. Die Wunde riss bei dieser Belastung weit auf, und der Verband half nicht mehr. Blut gefror und ließ den Jeansstoff steif werden. Jenna kämpfte sich bis auf ebenen Boden hinab und zwängte sich durch das Gewirr aus Zweigen, aber Mason war nirgends zu sehen. Panik durchzuckte sie. Sie mussten es zurück zur Station schaffen. Sie wollte nicht der Grund dafür sein, dass vier Menschen – darunter Kinder – erfroren.
Knurren schien von allen Seiten zu ertönen.
»John!«, schrie sie, und es kümmerte sie nicht mehr, wer oder was sonst ihre Rufe hören mochte.
Sie würde den Weg zurück ohne ihn niemals finden, also konnte sie sich genauso gut hinsetzen. Er hatte alle Vorräte und sogar ihr Gewehr. Er hatte ihr das Gewicht abgenommen, um es ihr leichter zu machen. Wie zur Hölle konnte er da kämpfen?
Ein Schuss ertönte. Dann noch einer. Dann die Geräusche eines Kampfs und der Aufschrei eines Menschen.
John! Nein!
Er würde für sie leben, ganz gleich um welchen Preis. Sogar wenn es sie ihre Seele kostete. Zorn und Entschlossenheit verschmolzen zu etwas Neuem, härter als Stahl, flüssiger als Quecksilber. Dieses neue Gefühl überstieg den Schmerz.
Jenna stand auf – oder zumindest ein Teil von ihr. Es fühlte sich an, als würde sie sterben. Für einen ewigen, winzigen Moment starrte sie aus weiter Ferne auf ihren Körper hinab. Von krampfartigen Schauern durchzogen zitterte und zuckte sie auf dem Boden. Starb sie wirklich ?
Nein. Sie sah zu, wie ihr Fleisch sich umzuformen begann. Sie sah, wie Knochen brachen und sich zu neuen Strukturen zusammenfügten, spürte es aber nicht. Und dann sauste sie zurück, zwängte sich verdreht durch eine unsichtbare Wand. Schauer überliefen sie. Jenseits davon lag eine Ebene aus schierem Schmerz, der ihre Sinne in Feuer badete und ihren Verstand in zwei Stücke spaltete. Der denkende Teil stürzte in ein tiefes, dunkles Loch und lag weinend am Boden.
Der andere Teil von ihr hob den Kopf und nahm im Wind Witterung auf. Sie lag zitternd und außer Atem auf der Seite. Aber ihr war warm. Eine weiße Pfote hob sich, erprobte den Schnee. Kalt. Sie erforschte einen heruntergefallenen Ast und hockte sich darauf.
Der Wind trug Verwesungsgeruch mit sich. Sie knurrte. Wandelnde Wesen sollten nicht so riechen. Ein Bedürfnis stieg in ihr auf, tiefer als Hunger. Töten.
Noch mehr laute Geräusche. Sie ließ sich von ihrer Nase leiten.
Die Wälder boten viele Fährten. Sie schnüffelte. Totes Eichhörnchen. Frisches Blut. Menschengestank.
Furcht.
Es gab etwas, das sie tun musste. Ihr rechtes Hinterbein tat weh, aber das machte sie nicht langsamer. Sie fühlte sich stark und sicher.
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