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Die letzte Delikatesse

Die letzte Delikatesse

Titel: Die letzte Delikatesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Muriel Barbery
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er will, Monsieur. Es ist kein Gericht, nichts zum Essen. Es ist die schöne blonde Dame, die vor zwanzig Jahren hierherkam, mit einem traurigen Ausdruck im Gesicht, eine sehr sanfte, sehr elegante Dame, die mich fragte: »Ist Monsieur zu Hause?« Ich antwortete: »Nein, aber Madame ist da.« Sie hob eine Braue, ich sah deutlich, daß sie überrascht war, und dann ging sie hastig davon, und ich habe sie nie mehr gesehen, aber ich bin sicher, daß zwischen ihnen etwas war, und wenn er seine Frau nicht liebte, kam es bestimmt daher, weil er der großen blonden Dame im Pelzmantel nachtrauerte.

Das Rohe
Rue de Grenelle, Zimmer
     
     
    Vollendung bedeutet Rückkehr. Das ist der Grund, weshalb allein dekadente Zivilisationen dazu fähig sind: So ist in Japan, wo das Raffinement eine unübertroffene Perfektion erreicht hat, im Herzen einer jahrtausendealten Kultur, die der Menschheit ihr Bestes gegeben hat, als letzte Errungenschaft die Rückkehr zum Rohen möglich geworden. So hat man im alten Europa, das wie ich unaufhörlich seinem Ende entgegengeht, zum ersten Mal seit der Urgeschichte rohes Fleisch gegessen, mit nichts als einigen Gewürzen darauf.
    Das Rohe. Wie leichtfertig zu meinen, es handle sich dabei lediglich um das barbarische Verschlingen von nicht zubereiteten Produkten! Einen rohen Fisch zerlegen, das ist, als behaue man einen Stein. Dem Laien erscheint der Marmorblock monolithisch. Er soll einmal versuchen, seinen Meißel aufs Geratewohl anzusetzen und mit dem Hammer daraufzuschlagen, das Werkzeug wird ihm aus den Händen fliegen, während der Stein intakt bleibt, seine Unversehrtheit bewahrt. Ein guter Steinmetz kennt sein Material. Er ahnt, wo die Kerbe, die schon da ist und nur darauf wartet, daß jemand sie zutage fördert, unter seinem Angriff nachgeben wird, und auf den Millimeter genau hat er schon erraten, wie die Figur, die nur Unwissende dem Willen des Bildhauers zuschreiben, Gestalt annehmen wird. Er enthüllt sie bloß – denn sein Talent besteht nicht darin, Formen zu erfinden, sondern Formen, die unsichtbar waren, zum Vorschein zu bringen.
    Die japanischen Köche, die ich kenne, sind erst nach langen Jahren einer Lehrzeit, in der die Kartographie des Fleisches allmählich in ihrer ganzen Klarheit hervortritt, zu Meistern in der Kunst des rohen Fischs geworden. Freilich besitzen manche schon die natürliche Gabe, unter ihren Fingern die Bruchlinien zu spüren, durch die das dargebotene Tier sich in jene köstlichen Sashimis verwandeln kann, die ein Experte aus dem Leib herauszulösen versteht, ohne daß sie nach Fisch riechen. Aber zu Künstlern werden sie trotzdem erst, nachdem sie diese natürliche Begabung bezwungen und gelernt haben, daß der Instinkt allein nicht genügt: Es braucht auch Geschick, um zu schneiden, Urteilsvermögen, um das Beste zu erkennen, und Charakter, um das Mittelmäßige auszuscheiden. Es kam vor, daß Tsuno, der König unter den Küchenchefs, aus einem riesigen Lachs nur ein kleines, scheinbar lächerliches Stück heraustrennte. Tatsächlich bedeutet auf diesem Gebiet die Weitschweifigkeit nichts, wird alles von der Vollendung diktiert. Ein Quentchen frische Materie, allein, nackt, roh: vollkommen.
    Ich hatte ihn in seinem hohen Alter kennengelernt, als er sich aus seiner Küche zurückgezogen hatte und hinter der Bar hervor die Gäste beobachtete, ohne sich noch selbst um die Gerichte zu kümmern. Von Zeit zu Zeit, bei einer speziellen Gelegenheit oder zu Ehren eines besonderen Gastes, nahm er sein Werk wieder auf – doch ausschließlich für Sashimis. In den letzten Jahren waren diese an sich schon außergewöhnlichen Gelegenheiten immer seltener geworden, bis sie geradezu einzigartige Ereignisse darstellten.
    Ich war damals ein junger Kritiker, der erst am Anfang seiner vielversprechenden Karriere stand, und kaschierte eine Arroganz, die als Anmaßung hätte gelten können und erst später als Kennzeichen meines Genies erkannt werden sollte. So hatte ich mich mit gespielter Demut allein an die Bar des Oshiri zu einem Abendessen gesetzt, von dem ich annahm, es werde ganz passabel sein. Ich hatte in meinem Leben noch nie rohen Fisch gegessen und erhoffte mir einen neuartigen Genuß davon. Nichts in meinem Werdegang hatte mich, den Gastronomienovizen, darauf vorbereitet. Ich führte nur das Wort »Boden« im Mund, ohne dessen Bedeutung zu verstehen – doch heute weiß ich, daß dieser »Boden« einzig durch die Legende unserer Kindheit existiert und daß wir

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