Die letzte Delikatesse
jene Welt von in der Erde verwurzelten Traditionen sowie die Identität eines Landstrichs nur erfinden, weil wir die magischen, auf ewig verflossenen Jahre, die dem Schrecken des Erwachsenwerdens vorangingen, verfestigen und faßbar machen wollen. Nur der besessene Wunsch, eine verschwundene Welt möge fortbestehen trotz der Zeit, die vergeht, vermag diesen Glauben an einen »Boden« zu erklären – es ist ein ganzes entschwundenes Leben, ein ganzes Konglomerat aus vereinzelten Geschmäcken, Gerüchen und Düften, was sich in den altüberlieferten Bräuchen, in den einheimischen Gerichten niederschlägt, diesen Schmelztiegeln einer trügerischen Erinnerung, die aus Sand Gold machen möchte und aus Zeit Ewigkeit. So gibt es keine große Küche ohne Entwicklung, ohne langsamen Zerfall und Vergessen, ganz im Gegenteil. Dadurch, daß sie einem ständigen Verarbeitungsprozeß unterworfen ist, in dem Vergangenheit und Zukunft, Hier und Anderswo, Rohes und Gekochtes, Salziges und Süßes sich vermischen, ist die Küche zur Kunst geworden, und wenn sie weiterlebt, dann gerade deshalb, weil sie nicht in der Zwangsvorstellung jener erstarrt, die nicht sterben wollen.
Nach Cassoulet und Kohleintopf kam ich also praktisch ohne jede Erfahrung mit der japanischen Küche – wenn auch mit einigen Vorurteilen gegen sie – an die Bar des Oshiri, wo eine Batterie von Köchen am Werk war, die einen ganz hinten rechts auf einem Stuhl in sich zusammengesunkenen kleinen Mann beinahe verdeckten. Im Restaurant, das völlig schmucklos war, einem Raum von spartanischer Einfachheit mit primitiven Stühlen, herrschte das fröhliche Stimmengewirr der Orte, wo die Gäste mit dem Essen und dem Service zufrieden sind. Nichts Überraschendes. Nichts Besonderes. Warum hat er es getan? Wußte er, wer ich war, war der Name, den ich mir im kleinen Reich der Gastronomie zu machen begann, bis ans Ohr des blasierten alten Mannes gedrungen? Geschah es seinetwegen? Geschah es meinetwegen? Was bewirkt, daß ein Mann im fortgeschrittenen Alter, den nichts mehr erschüttern kann, die erlöschende Flamme in sich noch einmal neu entfacht und ihre lebendige Kraft für eine letzte Parade verbrennt? Worum geht es bei der Konfrontation zwischen dem scheidenden Meister und dem Eroberer, um Nachfolge, um Entsagung? Unergründliches Rätsel – nicht ein einziges Mal richtete er die Augen auf mich, außer am Schluß: leere, verwüstete, ausdruckslose Augen.
Als er sich von seinem armseligen Sitz erhoben hatte, hatte sich nach und nach eine bleierne Stille über das Restaurant gelegt. Zuerst über die Köche, die wie versteinert waren vor Verblüffung, und dann, als würde sich eine unsichtbare Welle unter den Anwesenden rasch ausbreiten, über die Gäste an der Bar und anschließend die Gäste im Raum bis hin zu jenen, die gerade hereinkamen und die Szene sprachlos verfolgten. Er hatte sich ohne ein Wort erhoben und war auf die mir gegenüberliegende Arbeitsfläche zugegangen. Derjenige, den ich schon als den Chef der Equipe erkannt hatte, verbeugte sich kurz, mit dieser von absoluter Ehrerbietung geprägten, für die asiatischen Kulturen so charakteristischen Geste, und wich mit den anderen langsam bis zum offenen Durchgang zurück, der in die Küche führte, überschritt die Schwelle jedoch nicht, sondern blieb dort unbeweglich, andächtig stehen. Meister Tsuno führte seine Komposition direkt vor mir aus, mit ruhigen Gesten von einer an Dürftigkeit grenzenden Sparsamkeit, doch ich sah unter seiner Handfläche in Perlmutt- und Moiréreflexen rosafarbige, weiße und graue Fleischstückchen entstehen und Form annehmen, und fasziniert wohnte ich dem Wunder bei.
Es war herrlich. Was da die Schranke meiner Zähne passierte, war weder Materie noch Wasser, sondern eine Substanz zwischen den beiden, die von ersterer eine dem Nichts trotzende Präsenz und Festigkeit bewahrt und von letzterem das Fließende und den wunderbaren Liebreiz übernommen hatte. Das echte Sashimi wird weder zerbissen noch zergeht es auf der Zunge. Es lädt zu einem langsamen und geschmeidigen Kauen ein, das nicht zum Zweck hat, die Natur der Speise zu verändern, sondern einzig dazu dient, deren ätherische Leichtigkeit zu genießen. Leichtigkeit, ja: nicht Weichheit und nicht Zartheit; das Sashimi, Samtstaub, fast schon Seide, trägt etwas von beiden in sich und bewahrt in der außerordentlichen Alchimie seines duftigen Wesens eine milchige Dichte, die die Wolken nicht haben. Der erste rosa
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