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Die letzte Delikatesse

Die letzte Delikatesse

Titel: Die letzte Delikatesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Muriel Barbery
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Instinkts. Mit ihrem scharfen Unterscheidungsvermögen überflog sie prüfenden Blickes den Küchengarten und nahm in einer Mikrosekunde, die sich der gängigen Zeiterfassung entzog, sein klimatisches Maß – und wußte. Sie wußte ebenso sicher und mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der ich gesagt hätte: »Es ist schönes Wetter«, wußte, welche jener kleinen roten Kuppeln jetzt gepflückt werden mußte. In ihrer schmutzigen, von der Feldarbeit verunstalteten Hand lag sie, leuchtend rot in ihrer straffen, nur gerade von einigen weicheren Falten durchzogenen Seidenrobe; ihre gute Laune war ansteckend, die gute Laune einer leicht fülligen Frau, die in einem zu engen Festtagskleid steckt, diesen Makel jedoch mit ihrer entwaffnenden Molligkeit wettmacht, so daß einen eine unwiderstehliche Lust überkam, herzhaft hineinzubeißen. Zusammengesunken auf der Bank unter der Linde, erfüllt vom sanften Singsang der Blätter, erwachte ich von einer wollüstigen Siesta, und unter diesem Vordach aus süßem Honig biß ich in die Frucht, biß ich in die Tomate.
    Als Salat, im Backofen, als Ratatouille, als Konfitüre, gebraten, gefüllt, eingelegt, klein wie Kirschen, groß und weich, grün und sauer, mit Olivenöl verfeinert, mit Grobsalz, Wein, Zucker, Paprika, zerquetscht, gehäutet, als Sauce, als Mus, als Schaum, als Sorbet sogar: Ich dachte, ich hätte sie in all ihren Varianten probiert, und glaubte bei mehr als einer Gelegenheit, ihr Geheimnis ergründet zu haben, in Artikeln, die von den Speisekarten der Größten inspiriert waren. Wie idiotisch, wie armselig … Ich habe Mysterien erfunden, wo es keine gab, und um ein gar klägliches Geschäft zu rechtfertigen. Was ist denn Schreiben schon, und mögen es auch brillante Artikel sein, wenn diese nichts über die Wahrheit sagen, weil sie so wenig ums Herz bemüht, so sehr der Lust zu glänzen unterworfen sind. Dabei kenne ich die Tomate seit jeher, seit Tante Marthes Garten, seit jenen Sommern, die das kleine, kümmerliche Gewächs mit einer immer glühenderen Sonne sättigten, seit damals, als ich mit meinen Zähnen eine Öffnung in ihre Haut riß, um meine Zunge mit einem lauwarmen, gehaltvollen Saft zu benetzen, dessen großzügige Natur durch die Kälte des Eisschranks, den Angriff des Essigs und den falschen Adel des Öls überdeckt wird. Zucker, Wasser, Frucht, Mark, flüssig oder fest? Die rohe Tomate, kaum gepflückt, im Garten verschlungen – das ist das Füllhorn der einfachen Empfindungen, ein im Mund zerstiebender Wasserfall, der ihre ganzen Freuden vereint. Der Widerstand der Haut, die sich gerade ein bißchen, gerade ausreichend spannt, das schmelzende Gewebe, diese kernhaltige Flüssigkeit, die aus den Mundwinkeln fließt und die man abwischt ohne Angst, sich damit die Finger fleckig zu machen, diese fleischige kleine Kugel, die einen Schwall von Natur in uns ergießt: Das ist die Tomate, das ist das Abenteuer.
    Unter der hundertjährigen Linde, inmitten von Düften und Geschmäcken, biß ich mit dem undeutlichen Gefühl, auf eine entscheidende Wahrheit zu stoßen, in die von Tante Marthe ausgewählten schönen, leuchtendroten Früchte. Eine entscheidende Wahrheit, aber immer noch nicht diejenige, der ich an den Pforten des Todes nachjage. Wahrhaftig, an diesem Morgen leere ich den Kelch der Verzweiflung bis zur Neige, mich anderswohin zu verirren als dorthin, wohin mein Herz mich ruft. Die rohe Tomate, das ist es noch nicht … Und da taucht auch schon eine andere rohe Speise auf.

Violette
Rue de Crenelle, Küche
     
     
    Arme Madame. Sie so zu sehen, so todtraurig, sie weiß nicht einmal mehr, was tun. Es geht ihm ja auch wirklich sehr schlecht … Ich habe ihn nicht wiedererkannt! Wie man sich in einem Tag verändern kann, es ist unglaublich – »Violette«, hat Madame zu mir gesagt, »er will ein Gericht, verstehst du, er will ein Gericht, aber er weiß nicht, welches«. Ich habe nicht sofort begriffen. »Will er nun ein Gericht, Madame, oder will er keins?« – »Er sucht, er sucht, was er gern möchte«, hat sie mir geantwortet, »aber er findet es nicht.« Und sie hat die Hände gerungen, wie kann man sich nur so quälen wegen eines Gerichts, wenn man doch sterben wird, wenn ich morgen sterben sollte, also ich würde mich bestimmt nicht ums Essen kümmern!
    Ich mache hier alles. Das heißt, fast alles. Als ich vor dreißig Jahren hierherkam, wurde ich als Putzfrau angestellt. Madame und Monsieur hatten gerade erst geheiratet, sie

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