Die letzte Delikatesse
wieder vergessen. Ich weiß genau, was sie am Abend beim Nachhausekommen sagen, sofern sie sich noch daran erinnern, in einem Winkel ihres Unterbewußtseins: »Schrecklich, es gibt immer mehr, es zerreißt mir das Herz, ich gebe, natürlich, aber nach dem zweiten höre ich auf, ich weiß, es ist willkürlich, es ist furchtbar, aber man kann nicht dauernd geben, wenn ich an die Steuern denke, die wir bezahlen, es sollte nicht an uns sein, zu geben, der Staat ist nachlässig, der Staat ist es, der seine Rolle nicht spielt, ein Glück, daß wir eine linke Regierung haben, sonst wäre es noch schlimmer, also gut, was gibt es zu essen heute abend, Teigwaren?«
Die können mich mal. Und da bin ich noch höflich. Ich pfeife auf sie, diese Spießbürger, die den Sozi raushängen, die auf zwei Hochzeiten tanzen wollen, das Abonnement im Theater Châtelet und die Armen vom Elend erretten, den Tee bei Mariage und die Gleichheit der Menschen auf Erden, ihren Urlaub in der Toskana und die Gehsteige von den Stacheln in ihrem Gewissen geräumt, die Putzfrau schwarz bezahlen und ein offenes Ohr für ihre Tiraden als selbstlose Verteidiger. Der Staat, der Staat! Der Staat, das ist das ungebildete Volk, das den König verehrt und allein die unfähigen, korrupten Minister für all die Übel verantwortlich macht, unter denen es zu leiden hat; das ist der Pate, der zu seinen Schergen sagt: »Der Mann sieht schlecht aus« und nicht wahrhaben will, daß er mit dieser Andeutung dessen Hinrichtung befiehlt; das sind der schikanierte Sohn, die malträtierte Tochter, die die Sozialarbeiterin beschimpfen, wenn sie von den Rabeneltern Rechenschaft verlangt! Der Staat! Was hat der Staat doch für einen breiten Rücken, wenn es darum geht, einen anderen anzuklagen, der niemand anderer ist als man selbst!
Und dann ist da die andere Gattung. Die Gattung der Bestien, der echten Schweine, die den Schritt nicht beschleunigen, den Blick nicht abwenden, die mich mit ihrem kalten und mitleidlosen Blick fixieren, Pech für dich, mein Freund, kratz ab, wenn du nicht zu kämpfen verstehst, keine Nachsicht für das Gesindel, für den Pöbel, der wie Untermenschen in seinen Kartons dahinvegetiert, kein Pardon, entweder man gewinnt oder man verliert, und wenn du meinst, ich schäme mich für mein Geld, dann täuschst du dich gewaltig.
Zehn Jahre lang ging er Morgen für Morgen, wenn er aus seinem Palazzo kam, mit dem gemessenen Schritt des zufriedenen Reichen an mir vorüber, hielt meiner Bitte mit einem Blick voll stummer Verachtung stand.
Wenn ich er wäre, würde ich es gleich machen. Man muß nicht meinen, alle Penner seien Sozis und die Armut mache einen zum Revolutionär. Und da er anscheinend krepieren wird, sage ich ihm: »Krepier, mein Alter, krepier an all dem Geld, das du mir nicht gegeben hast, krepier an deinen stinkfeinen Suppen, krepier an deinem Leben als Mächtiger, aber freuen werde ich mich nicht darüber. Du und ich, wir sind aus dem gleichen Holz geschnitzt.«
Das Brot
Rue de Grenelle, Zimmer
Keuchend, außer Atem, mußten wir den Strand verlassen. Schon war mir die Zeit köstlich kurz und lang zugleich erschienen. Die Küste, an dieser Stelle ein langer, sich träge dahinziehender Sandbogen, den jedoch die Wellen gierig beleckten, erlaubte die kühnsten Badefreuden, gefahrlos und damit um so wonnevoller. Seit dem Morgen tauchten wir mit meinen Cousins unermüdlich unter den Brechern durch oder schwangen uns auf ihren Kamm, atemlos, trunken von diesem endlosen Auf und Nieder, und kehrten nur zum allgemeinen Sammelpunkt, dem Sonnenschirm der Familie, zurück, um ein Beignet oder ein paar Trauben hinunterzuschlingen, bevor wir schnurstracks wieder zum Ozean stürmten. Bisweilen ließ ich mich jedoch in den heißen, knisternden Sand fallen, wo ich augenblicklich in einem stumpfsinnigen Wohlgefühl erstarrte und mir gerade noch der Betäubung meines Körpers und der so typischen Strandgeräusche, Gemisch aus Mövengekreisch und Kinderlachen, bewußt war – ein Moment innigen Behagens in diesem so einzigartigen Glücksrausch. Doch die meiste Zeit ließ ich mich im Wasser treiben, tauchte auf, tauchte unter in der flüssigen, wogenden Masse. Kindlicher Überschwang: Wie viele Jahre verbringen wir damit, jene glühende Begeisterung zu vergessen, mit der wir jedes uns Lust verheißende Tun erfüllten? Welch unbedingte Einsatzbereitschaft, welcher Jubel, welche bezaubernden lyrischen Höhenflüge sind uns doch abhanden gekommen! In
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