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Die letzte Eskorte: Roman

Die letzte Eskorte: Roman

Titel: Die letzte Eskorte: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sean Thomas Russell
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provozierte noch mehr Gelächter, da sich keiner der Zuschauer vorstellen konnte, dass sich eine Frau nach einem solchen Hanswurst verzehrte. »Verleugne deinen Vater, deinen Namen! Willst du das nicht, schwör dich zu meinem Liebsten, und ich bin länger keine Capulet. Dein Nam’ ist nur mein Feind. Du bliebst du selbst, und wärst du auch kein Montague. Was ist denn Montague? Es ist nicht Hand, nicht Fuß, nicht Arm noch Antlitz, noch ein andrer Teil ...«
    »Wie wenig sie doch weiß von eines Mannes Teil!«, krächzte Romeo.
    Eine verunsicherte Julia versuchte durchzuhalten. »... des Menschen selbst. O lass dich anders nennen. Was ist ein Name? Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften ...«
    Doch die Schauspielerin verstummte, nicht etwa weil sie unterbrochen wurde, sondern weil Romeo plötzlich eine Prise Schnupftabak nahm. Das Lachen im Publikum verunsicherte Julia zutiefst. Ehe sie ihren Text weitersprechen konnte, kletterte Romeo zu ihr hinauf und bot ihr die offene Schnupftabaksdose dar. Da die Zuschauer bei diesem Akt unpassender Ritterlichkeit zu johlen begannen, war Julia so verwirrt, dass sie lange nicht in ihren Text zurückfand.
    Auch Hayden und die anderen mussten lachen.
    »Die arme Julia«, sagte Henrietta und strich sich die Lachtränen fort. »Das ist eine weitaus größere Tragödie, als Shakespeare je beabsichtigte.«
    »Ja, etwas Vergleichbares hat es noch nicht gegeben«, meinte Robert, als nach dem Akt der Vorhang fiel.
    Nach einer kurzen Pause waren alle gespannt, was als Nächstes kommen würde, denn niemand wollte verpassen, wie Moat das Stück weiter verunstaltete. Eine farcenhafte Szene folgte auf die nächste, bis sich das Stück dem Ende neigte. Romeo betrat Julias Grab und fand seine schöne Geliebte reglos am Boden liegend vor.
    »Sie ist vor Scham gestorben«, wisperte Henrietta.
    »Ah, geliebte Julia«, sprach Romeo. »Warum bist du so schön noch? Ist dies das Gewand, das ich dir gab? Das Nachtgewand für deinen ewigen Schlaf? Das Grün, das deine Augen einst so leuchten ließ, lässt nun strahlen mein Wams rot. Zumindest liegen wir beieinander in dieser langen Nacht, dunkle Schatten aus Jade und scharlachrotem Samt. Wer würd’ leugnen, dass wir einen schönen Anblick bieten?« Moat nahm einen Schluck von dem Gift. »O wackrer Apotheker! Dein Trank wirkt schnell!«
    Doch offenbar nicht schnell genug. Denn Moat holte ein Taschentuch hervor und wischte theatralisch eine Stelle der Bühne sauber. Nachdem er sich den Federhut wie ein Kissen zurechtgelegt hatte, starb er den längsten und übertriebensten Bühnentod, den diese berühmte Tragödie je gesehen hatte. Schließlich kniete er neben der armen Julia und rief: »O Tod! Und so im Kusse gehe ich zu meiner tödlichen Braut.« Mit verdrehten Augen sank er zu Boden, landete mit dem Kopf weich auf dem lächerlichen Hut, wobei die übergroße Feder vor und zurück wippte wie eine weiße Fahne, die zur Kapitulation geschwenkt wurde.
    Noch nie hatte Hayden einen solchen Applaus gehört. Dann wurden Rufe nach Zugabe laut.
    Der Romeo-Darsteller ließ sich nicht zweimal bitten, sprang erfreut auf und zelebrierte noch einmal den Tod – dann, da es das Publikum einforderte, ein drittes Mal, und jeder Tod dauerte ein bisschen länger als der letzte. Nach diesen Darbietungen rührte Julias Ende niemanden mehr zu Tränen. Im Gegenteil, ihr Tod rief beinahe ebenso viel Heiterkeit hervor wie Moats Ende. Die zu Herzen gehenden Zeilen der armen Schauspielerin wirkten nun nur noch lächerlich.
    »Noch nie habe ich eine Julia gesehen, die so froh war, ihrem Ende entgegenzugehen«, meinte Henrietta nicht ohne Mitleid für die Schauspielerin.
    »Moat glaubte am Ende wohl, er sei Lazarus und nicht Romeo«, scherzte Robert.
    »Ja«, stimmte Hayden zu, »die Schwerkraft konnte ihn offenbar nicht in seinem Grab halten.«
    Worauf Henrietta ihm in gespielter Entrüstung mit ihrem Fächer auf den Arm tippte.
    Die Zuschauer verließen das Theater, viele in kleineren Gruppen. Überall ahmte man Moat nach und versuchte, seine selbst gedichteten Zeilen zu imitieren. Auf der Straße vor dem Theater wiederholten einige Matrosen immerzu die Sterbeszene des Romeo. Eine Weile ließen sich Hayden und seine Begleiter von der lärmenden Menge forttragen, doch einige Blocks weiter wurde es allmählich ruhiger in den Straßen.
    Nach wie vor schwirrte ihnen der Kopf von der Inszenierung, die sie in dieser Form noch nie gesehen hatten. »Wo hat man

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