Die letzte Flucht
ohneSchrifttafel, deren Relief im vierten Stock befestigt war. Sie sah vornehm aus, eine Perlenkette hätte ihr gut gestanden, dachte Dengler. Die Frau saß auf einem Kissenschemel und spielte auf einem orientalischen Blasinstrument.
Mario hätte ihm sicher den Sinn dieses Kunstwerks erklären können. Dengler stand eine Weile da und betrachtete die Hauswand, und wieder wurde ihm bewusst, wie wenig er von der Welt außerhalb seines Berufes verstand.
***
Sie trafen sich vor dem Eingang des Gefängnisses Moabit.
»Waren Sie schon in Gefängnissen?«, fragte Lehmann.
»Sicher, aber noch nie in Moabit. In Stammheim war ich oft. Auch in Bruchsal, Karthause und Kaiserslautern.«
Der Beamte hinter der Scheibe aus schusssicherem Glas schien Lehmann zu kennen.
»Und wer ist dieser junge Mann?«, fragte er gut gelaunt.
»Das ist unser neuer Anwaltsgehilfe.«
»Da hamse sicher een Dokument dabei.«
Lehmann legte seinen Rechtsanwaltsausweis und Denglers neuen Arbeitsvertrag in einen Schiebekasten. Der Beamte zog ihn ein und studierte die Unterlagen.
»Dett is ja Ihr erster Arbeitstag heute. Da kriegen Se ja gleich die richtige Einstimmung.«
Dengler nickte.
Sie gingen in einen kleinen Raum, in dem bereits ein anderer Beamter wartete.
»Fertigmachen zur Durchleuchtung.«
Sie legten Geldbeutel, Gürtel, Handys und Schlüssel in eine Kunststoffbox und gingen durch die Sicherheitsschleuse. Auf der anderen Seite nahmen sie Geldbeutel und Schlüssel wieder an sich.
»Ihre Handys bitte bei mir abgeben«, sagte der Beamte.
Dengler sah Lehmann fragend an. Als dieser nickte, legte ersein Handy in eine Plastikbox. Der Beamte reichte ihm eine Quittung.
» USB – Sticks, Laptop, separate Festplatten?«
Sie schüttelten den Kopf.
Der Beamte untersuchte sie. Mit dem Handrücken streifte er Arme, Oberkörper und Beine ab. Dann nahm er Lehmanns Akten und blätterte sie durch.
»Keine Sorge. Ich lese nix.«
»Das darf er«, sagte Lehmann, als er Denglers fragendes Gesicht sah. »Blättern ohne Studium, so steht es in der Gefängnisordnung.«
»Keine Waffen, kein Sprengstoff, nicht mal Schnaps«, sagte der Mann und gab den Ordner zurück.
»Das sagt er jedes Mal«, flüsterte Lehmann Dengler zu.
Sie gingen nun einen Gang aufwärts, passierten zwei Gittertüren, die sich automatisch öffneten, als sie näher kamen.
»Ich könnte kein Strafrechtler sein. Gefängnisse deprimieren mich. Schon allein die Atmosphäre hier ist Grund genug, sich auf Vertragsrecht zu spezialisieren«, sagte Lehmann.
***
Das Besucherzimmer war hoch und kahl. Ein nackter Raum mit großen vergitterten Fenstern, hellgelben Wänden, einem großen Tisch an der Wand, drei Stühlen. Demonstrativ nur das Notwendigste. Dengler fröstelte. Lehmann setzte sich an die lange Seite des Tisches und legte eine dicke rote Akte vor sich. Dengler setzte sich an die schmale Seite.
Sie warteten.
Die Tür wurde aufgestoßen. Zwei Beamte brachten den Untersuchungshäftling.
Professor Dr. Bernhard Voss war ein hochgewachsener Mann mit kurzem, schwarzem Haar, durchzogen von kräftigen grauen Strähnen an den Schläfen und über der Stirn. Sein Bart war voll, wirkte jetzt jedoch ungepflegt und seitlängerem nicht mehr geschnitten. Am Kinn waren die Haare grau, an den Seiten schwarz wie das Kopfhaar. Voss trug eine randlose Brille über einem schockierend blassen Gesicht. Sein Mund war leicht geöffnet, die Mundwinkel waren nach unten gezogen, im rechten Mundwinkel hing ein Speichelflöckchen. Die Oberlippe war leicht hochgezogen, seine Unterlippe vibrierte etwas. Er stand vornübergebeugt, der linke Arm hing herunter, die rechte Hand lag auf seinem Bauch und strich immer wieder über ihn. Sein Blick war gesenkt, trotzdem sah Dengler, dass seine beiden Augäpfel hin und her rasten. Der Mann trug eine ausgebeulte braune Hose aus grobem Cord, die vor vielen Jahren sicher einmal teuer gewesen war, und einen beigen Pullover.
Dengler registrierte die Körperhaltung des Mannes. Er hatte die Schultern in Richtung seiner Ohren hochgezogen. Beim FBI nannten sie das die Schildkrötenhaltung.
Mit der Schildkrötenhaltung macht sich ein Täter klein. Er will nicht auffallen. Er vermeidet Augenkontakt, weil er hofft, dann selbst unsichtbar zu sein.
So stand es in seinem Lehrbuch.
Voss hatte die Mundwinkel nach hinten gezogen, sein Gesicht wirkte verkrampft, als habe er starke Schmerzen.
»Bernhard!«
Dr. Lehmann war aufgestanden und ging steif auf Voss zu. Er blieb vor ihm
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