Die letzte Flucht
würden abgelaufene Medikamente in die Dritte Welt liefern – das machen wir nicht. Vielleicht gelangen unsere Produkte auf Umwegen dorthin, vielleicht gibt es einen Pharmagroßhändler, der illegale Geschäfte macht, aber davon ist mir nichts bekannt. Ich bin zuständig für das Geschäft in Europa.«
»Was verkaufen Sie?«
»Medikamente. Arzneien. Mein Gott, ich habe es Ihnen gestern doch schon gesagt. Nichts Aufregendes. Nichts Illegales. Nichts Unmoralisches. Medikamente. Wir forschen, entwickeln, verpacken und liefern. Wir liefern an Apotheken, an Krankenhäuser.«
»Was verkaufen Sie wirklich?«
»Was glauben Sie denn?« Assmuss schrie nun. »Glauben Sie, ich würde heimlich Waffen verkaufen? Heroin? Glauben Sie, ich würde einen illegalen Organhandel betreiben? Ist es das, was Sie glauben? Ich verkaufe Medikamente, die der Arzt verschreibt und die der Apotheker Ihnen reicht, wenn Sie krank sind. Ich helfe, dass Sie wieder gesund werden, wenn Sie krank sind. Was wollen Sie von mir hören? Das ist dieWahrheit. Sie ist unspektakulär. Aber es ist wahr; damit beschäftige ich mich zehn, zwölf, vierzehn Stunden am Tag.«
Der Maskierte stand auf und ging zum Kühlschrank. Er nahm zwei Plastikflaschen Mineralwasser heraus und stellte sie auf den Tisch. Die beiden Plastiktüten faltete er zusammen und steckte sie in seine Hosentasche. Dann verschwand er im Bad und trug den Eimer, den Assmuss geleert und erneut mit Wasser gefüllt hatte, neben das Bett.
»Überlegen Sie weiter, was Sie verkaufen.«
Der Maskierte ging zur Tür.
»Bleiben Sie hier. Ich habe es Ihnen doch gesagt. Bleiben Sie hier.«
Tränen standen in Assmuss’ Augen.
»Was wollen Sie denn wissen? Ich sage es Ihnen.«
»Was verkaufen Sie?«
»Arznei!«
Assmuss schrie, so laut er konnte.
Der Mann machte die Tür auf und ging.
Fassungslos starrte Assmuss ihm nach. Dann warf er sich aufs Bett. Er konnte nicht anders: Tränen rannen ihm übers Gesicht.
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13. Akten
Dengler las die Ermittlungs- und Spurenakten. Die Polizei hatte gründliche Arbeit geleistet. Die Beweiskette war dicht. Voss war überführt.
Jasmin Berner war auf dem Weg von der Schule nach Hause entführt worden. Sie hatte ihre Grundschule in Grunewald um Viertel nach zwölf am Vormittag verlassen. Zwei Lehrerinnen erinnerten sich, Jasmin zusammen mit ihrer FreundinVanessa gesehen zu haben. Mithilfe der Angaben Vanessas konnte die Polizei den Verlauf des Heimweges zumindest teilweise rekonstruieren: Die beiden Mädchen waren die Delbrückstraße entlang bis zur etwas größeren und belebteren Bismarckallee gelaufen. Dort hatten sich die beiden getrennt. Christine war zur nahe gelegenen Schwimmschule gegangen, um dort ihren kleinen Bruder abzuholen. Jasmin hatte die Bismarckallee überquert. Seither hatte niemand mehr sie lebend gesehen.
Kurz nach 14 Uhr rief Jasmins besorgte Mutter in der Schule an. Dort sagte man ihr, dass ihre Tochter vor circa zwei Stunden nach Hause gegangen sei. Die Mutter rief Vanessas Eltern an. Dann lief sie zweimal den Nachhauseweg ihrer Tochter ab. Um 15.18 Uhr registrierte das Polizeipräsidium die Vermisstenmeldung. Man nahm die Meldung sofort ernst.
Die Gegend rund um die Bismarckallee wurde von der Polizei als ruhig und wohlhabend beschrieben. Vier Beamte liefen das Viertel ab, klingelten an den Häusern in der Umgebung und befragten die Bewohner. Es kam nichts Nützliches dabei raus. Kein konkreter Hinweis auf Jasmin. Ein älterer Mann gab zu Protokoll, ihm sei aufgefallen, dass ein schwarzer Mercedes-Kombi ungewöhnlich langsam die Bismarckallee hinaufgefahren sei. Auf den Fahrer habe er jedoch nicht geachtet, an mögliche Aufschriften auf dem Fahrzeug konnte er sich nicht erinnern. Auch die genaue Uhrzeit seiner Beobachtung war nicht in Erfahrung zu bringen. Anhand von Bildern identifizierte der Zeuge das Fahrzeug: Es handelte sich offenbar um das Modell Vito von Daimler, ein geräumiger Wagen, der bis zu acht Personen befördern kann. Weitere Zeugen, welche die Existenz des Kombis bestätigten, fand die Polizei nicht. Eine tote Spur.
Voss galt zwar eindeutig als der Hauptverdächtige. Sicher war aber, dass er Jasmin nicht selbst entführt haben konnte. Der Professor hatte für den ganzen Nachmittag ein unumstößliches Alibi. Er hatte eine Arbeitsgruppe seines Instituts geleitet, acht Zeugen bestätigten seine Anwesenheit, darunter sein Stellvertreter und zwei Doktoranden. In der Pause hatte er von seinem Büro aus mit seinem
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