Die letzte Flucht
Brille. Sartre-Leser. Oder Camus-Leser. Er wusste es nicht mehr genau. Pablo nahm ihm Marlies weg. Selbst hier, gefesselt auf dem breiten Bett, mochte Assmuss nicht daran denken. Er hatte Pablo damals aufgelauert. Er hatte ihn vermöbeln wollen, war auf ihn losgegangen, doch Pablo hielt plötzlich ein Messer in der Rechten, und sein Blick signalisierte, dass er damit umzugehen wusste. Als Marlies nach diesem Vorfall wütend einen Stock tiefer zog, verließ er Paris als geschlagener Mann. Der Gedanke daran schmerzte immer noch.
»Was willst du? Du kleines Hausschwein!«, hatte Pablo zu ihm gesagt.
Er konnte diesen Satz nicht vergessen. Mithilfe eines Spanisch-Deutsch-Wörterbuches hatte er ihn übersetzt: ¿qué quieres? Usted cerdito domésticos!
Was verkaufst du wirklich?
Er versuchte, diesen Satz ins Spanische zu übersetzen.
¿Lo que realmente vende?
Stimmte das so?
Er lag auf dem Rücken und dachte nach.
Oder hieß es: ¿qué es lo que realmente vende?
Plötzlich fiel es ihm ein.
Vendemos esperanza – das war der Titel, zumindest der spanische Titel seines Vortrages gewesen, den er auf einer Managementtagung in Sevilla gehalten hatte.
Vendemos esperanza!
So hieß der Vortrag, den er in Sevilla gehalten hatte.
Vendemos esperanza – Wir verkaufen Hoffnung.
Auf Deutsch war der Titel sachlicher gehalten: Perspektiven der künftigen Geschäftsentwicklung von Peterson & Peterson in Europa.
Assmuss saß plötzlich aufrecht im Bett.
Wollte der Entführer das wissen?
Das konnte er ihm sagen.
Bitte, wenn er nicht mehr wollte.
Wir verkaufen Hoffnung!
Mit diesem Vortrag in Sevilla hatte er die Umstrukturierung von Peterson & Peterson in Europa eingeleitet. Neuer Chef, neue Strategie, das war normal, aber seine neue Geschäftspolitik war ein umwerfender Erfolg gewesen. Viel Geld war in die Kassen des Konzerns gespült worden.
Mitten in der Nacht lag er in seinem Gefängnis, und er war high.
Er wusste die Antwort. Wir verkaufen Hoffnung.
Aber andererseits, dachte er, und die Euphorie schwand wieder: Dieser Vortrag war nie publiziert worden. Sein Entführer konnte ihn nicht kennen. Es war eine PowerPoint-Präsentation gewesen, und Assmuss war sich nicht sicher, ob den Teilnehmern die Folien ausgehändigt worden waren.
Wie auch immer, wenn es das war, was der Entführer wissen wollte: Jetzt kannte er die richtige Antwort. Ihm entfuhr ein tiefer Seufzer, ohne dass er dies registrierte. Er atmete mehrmals tief ein und aus, aber auch dies tat er nicht bewusst, er bemerkte es nicht einmal. Nur die Erleichterung spürte er. Es war ein befreiendes Gefühl in der Magengrube, heiter stimmte es ihn, trotz der Kette an seinem Fuß.
Er schlief ein. Zum ersten Mal seit seiner Gefangenschaft suchten ihn keine Albträume heim.
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15. Clapton
Olga landete in Berlin-Schönefeld.
Dengler holte sie am Flughafen ab.
Sie liebten sich in seinem Hotelzimmer.
»Das ist die beste Überraschung«, sagte er.
»Quatsch. Die richtige Überraschung kommt erst noch.«
Sie sprang aus dem Bett und verschwand im Bad. Als sie zurückkam, zog sie einen Plan mit dem Liniennetz der Berliner Verkehrsbetriebe aus ihrer Tasche. Sie legte sich bäuchlings aufs Bett und studierte ihn.
»Alles klar«, sagte sie. »Wir steigen Kochstraße ein, fahren zur Friedrichstraße und steigen dann um.«
»Wo willst du überhaupt hin? Hier ist es auch sehr schön.«
Er streichelte ihren Hintern.
Eine Stunde später erreichten sie die Haltestelle Warschauer Platz.
Nahezu alle Fahrgäste stiegen aus. Eine große Menschenmenge bewegte sich in einer komplizierten Wegeführung über eine Rampe hinauf zur Warschauer Straße. Alle schienen das gleiche Ziel zu haben. Nur Dengler hatte keine Ahnung.
»Wir gehen dahin, wo alle hingehen?«
Olga nickte.
Wenig später erkannte er das Ziel: Halbkreisförmig erwartete sie der Eingang der riesigen O 2 World-Halle.
»Wir sehen uns ein Eishockeyspiel an?«
»Falsch.«
»Wir gehen in ein Konzert?«
»Ja.«
»Wagner, Bach, Beethoven?«
»Falsch.«
»Aber so, wie es aussieht, werden wir beide trotzdem eher zu den jüngeren Besuchern zählen.«
»Mmmh.«
»Eric Clapton und Steve Winwood? Da steht’s.«
Olga strahlte ihn an.
»Du hast so oft von diesem Konzert von Eric Clapton in London erzählt, da dachte ich, das würde dir gefallen.«
Dengler lachte.
»In der Royal-Albert-Hall war ich damals dienstlich. Ich fahndete nach einem Terroristen, der ein Eric-Clapton-Fan war. Und es war meine
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