Die letzte Flucht
tschüss.«
»Tschüss.«
Henry stand auf und schloss die Handschellen an Assmuss’ Händen auf und nahm sie ab.
Assmuss entfernte langsam das Klebeband von seinem Mund. Er zog sehr langsam und vorsichtig an dem Band, das sich fest in die Bartstoppeln geklebt hatte, die ihm in dendrei Tagen seiner Gefangenschaft gewachsen waren. Es tat weh.
Henry sah ihm zu.
»Sie werden nicht vermisst. Erklären Sie mir das.«
Assmuss suchte den Blick hinter der schwarzen Maske. Es waren klare blaue Augen, die ihn fragend ansahen.
Er schüttelte den Kopf.
Birgit – die Polizei wird ihr gesagt haben, sie solle so antworten, wie sie es am Telefon getan hat. Aber die Polizei? Wieso wusste die Polizei nichts von ihm? Wieso nahm sie keine Hinweise entgegen?
Er sah Henry an. Und sah nichts als die fragenden blauen Augen hinter der Maske.
»Ich … ich habe keine Erklärung.«
»Sie haben keine Erklärung?«
Assmuss schüttelte den Kopf. Er saß auf einem Stuhl, aber er hatte das Gefühl, er falle. Er versuchte zu atmen und produzierte dabei ein schneidendes, ein pfeifendes Geräusch, das der dünne Luftstrom verursachte, der sich durch die verstopfte Kehle zwängte. Noch nie hatte er sich so verloren gefühlt. Er starrte geradeaus und sah den maskierten Mann vor ihm nur verschwommen.
»Weder Ihre Frau noch Ihre Firma haben Sie als vermisst gemeldet.«
»Das ist unmöglich.«
Henry zuckte mit den Schultern.
»Ich verstehe es auch nicht. Ich habe mit einem hohen Fahndungsdruck gerechnet. Dieses Versteck ist sorgfältig ausgesucht. Wenn ich gewusst hätte, dass man Sie nicht vermisst, hätte ich mir einige Mühe ersparen können. Wenn Sie nicht vermisst werden, Assmuss, dann will Sie wohl auch niemand zurückhaben.«
Er lachte rau.
Birgit – sie hatte so froh, so leicht und unbeschwert geklungen. Vielleicht war sie erleichtert, dass er verschwundenwar. Er verscheuchte den Gedanken wie eine lästige Fliege, aber ebenso wie diese kam er sofort wieder zurück.
Um seine Ehe stand es nicht gut. Es stand sogar sehr schlecht um seine Ehe.
In Wahrheit war sie am Ende.
Birgit hatte eine Affäre, und er hatte es nicht gemerkt.
Zunächst hatte er den Anruf von Luisa nicht ernst genommen.
»Warum passt du nicht besser auf deine Frau auf?«, hatte sie ihn gefragt.
»Ich tue, was ich kann.«
»Mach keine Witze. Birgit ruiniert gerade meine Ehe.«
Er hatte gelacht.
Er hatte gelacht wie der Idiot, der er tatsächlich war.
Luisa hat mal wieder zu viel getrunken, hatte er gedacht. Jetzt säuft sie schon am helllichten Tag.
»Die beiden haben was miteinander«, sagte sie. »Birgit schickt ihm SMS .«
»Wenn ich dir jetzt eine SMS schicke, dann haben wir beide noch lang nichts miteinander«, antwortete er, schon unsicher geworden.
Sie hatten Luisa und Jürgen Kettelmann beim Skifahren kennengelernt. Im Hotel Waldhaus in der Schweiz. Schönes Hotel. Alt, gediegen. Ein bisschen zu viel Rummelplatz, wie er fand. Zu viele Fernsehleute, zu viele Tatort-Kommissarinnen. Vierzehn Tage gemeinsamer Urlaub, gemeinsame Abfahrten und Ausflüge. Man hatte sich angefreundet, sich gegenseitig eingeladen, auch nach dem Urlaub, aber niemand hatte die Einladung ernst gemeint, und keines der Ehepaare hatte das andere je besucht. Eine Urlaubsbekanntschaft eben. Kettelmann und Söhne, Baubeschläge oder etwas Ähnliches stellten sie her.
Danach hatte man sich noch einmal getroffen, zufällig, bei den Festspielen in Salzburg.
»Hast du irgendwas mit dem Kettelmann?«, fragte er Birgitzwei Tage nach dem Telefonat mit Luisa, abends, als er aus dem Büro kam, etwas müde, aber zufrieden, mit einem Glas Port in der Hand.
Sie hatte sich zu ihm gesetzt, ihm in die Augen gesehen und »Ja« gesagt.
Es war ein Schock.
Es war, als hätte die Welt um ihn herum den Ton abgedreht. Immer nur sah er Birgits Mund, der das »Ja« aussprach wie ein Todesurteil. Ihr Blick, wie sie ihn taxierte, ob er dieses »Ja« wohl ertragen könne.
Es kamen fürchterliche Tage.
Birgit sagte, es sei gut, dass Luisa angerufen habe, denn nun seien die Heimlichkeiten vorbei. Sie werde tagsüber im Haus sein, aber nur tagsüber, sagte sie, und sie werde Jan versorgen, der noch bei ihnen wohnte, obwohl er bereits im zweiten Semester an der Humboldt-Universität studierte. Lena war damals schon zwei Jahre in Hamburg. Nachts allerdings könne er nicht mehr mit ihr rechnen.
Wie cool die Kinder alles aufgenommen hatten. Birgit erklärte ihnen klipp und klar, sie habe sich
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