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Die letzte Flucht

Die letzte Flucht

Titel: Die letzte Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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erste Begegnung mit dem Blues, mit richtigem Blues …«
    »Ich kenne die Geschichte«, sagte sie und küsste ihn.
    Die Halle war zu seiner Überraschung bestuhlt. Ein Rockkonzert bestuhlt wie bei den Philharmonikern?
    Irgendwo in der Mitte waren ihre Plätze, viel zu weit von der Bühne entfernt, als dass er mehr von den Musikern sah als kleine, kaum wahrnehmbare Gestalten. An beiden Bühnenseiten hingen riesige Videoleinwände.
    Vor ihnen saßen vier ältere Herren, dunkel, fast seriös gekleidet, und unterhielten sich angeregt. Offensichtlich kannten sie Eric Claptons Biografie gut, denn einer von ihnen erzählte, dass Clapton über lange Jahre Alkoholiker gewesen sei, und ein anderer wusste, dass Mick Jagger ihm einmal Carla Bruni ausgespannt habe, die heutige Frau des französischen Staatspräsidenten.
    Die riesige Halle war ausverkauft.
    Eigentlich war Dengler für diese Musik zu jung gewesen, aber sie hatte ihn immer interessiert. In die Stones- oder Beatles-Lagerkämpfe der Älteren hatte er sich nie eingemischt. Er hatte vielmehr schon früh Cream bevorzugt, eine der Supergroups , in denen Clapton gespielt hatte. Das mitreißende Crossroads mochte er am meisten. Erst hatte er gedacht, dass der Name des Komponisten, der auf der Langspielplatte in Klammern stand, ein Mitglied der Band sein müsste: Robert Johnson . Eher zufällig fand er heraus, dass dieser Robert Johnson auch für die Rolling Stones , für EricBurdon und die Animals, Fleetwood Mac, Led Zeppelin, Peter Green und andere komponiert hatte . Er dachte, dies sei ein englisches Kompositionsgenie, bei dem alle die berühmten Bands ihre Songs bestellten. Es dauerte noch ein paar Jahre, bis er in einer Musikzeitschrift las, dass Robert Johnson ein schwarzer Musiker gewesen war, der bereits 1938 gestorben war. Dengler erinnerte sich daran, dass ihn, als er diese Jahreszahl las, die Erkenntnis wie ein Donnerschlag getroffen hatte: Cream , Stones und all die Bands hatten in ihren Anfängen die Songs anderer nachgespielt! Bisher hatte er geglaubt, wie viele in Deutschland, die Entwicklung des Rock habe mit diesen Bands begonnen, und er sei Zeuge und Teilnehmer einer völlig neuen, noch nie da gewesenen musikalischen Entwicklung gewesen. Nun wurde ihm bewusst, dass diese Musik auf den Werken damals verfemter und weitgehend unbekannter schwarzer Musiker beruhte oder direkt aus dem Mississippi-Delta oder aus dem Ghetto von Chicago stammte. In den USA verhinderte der Rassismus, dass ihre Musik anerkannt wurde. Es waren junge britische Musiker, John Lennon, Keith Richards und Eric Clapton, die die Qualität des Blues erkannten – und diese Musik auf die Bühnen Großbritanniens und Europas brachten und damit eine riesige Popmusikindustrie ins Leben riefen.
    Die Band begann mit Hard To Cry . Sie brachten den Blues Key To The Highway . Clapton und Winwood spielten zusammen Gitarre und sangen abwechselnd. Sie spielten Gimme Some Loving aus dem Songbook Winwoods, Jimi Hendrix’ Voodoo Child , J. J. Cales Hit After Midnight .
    Dengler kannte alle Songs.
    Und dann endlich Crossroads .
    So hatte er das Lied noch nie gehört. Es war gereinigt von jeder Wut, jedem Gitarrengewitter, das noch auf der Platte Wheels of Fire zu hören war. Clapton und Winwood spielten es langsamer und ohne die zornige Eile, mit der Cream früher durch den Song getobt waren.
    Was für eine Zeitreise, dachte Dengler.
    Es kam ihm vor, als wohne er einer Verwandlung bei. Aus dem rebellischen Song destillierten die Musiker gewissermaßen ein Konzentrat, das sie mit hoher Kunstfertigkeit und großer Gelassenheit vortrugen. Dengler erlebte die Verwandlung eines Rebellensongs in – Klassik.
    Die Musiker waren älter geworden, und ich bin es auch, dachte er.
    You can run, you can run, tell my friend-boy Willie Brown.
You can run, you can run, tell my friend-boy Willie Brown.
And I’m standing at the crossroads, believe I’m sinking down.
    Einer der älteren Herren in der Reihe vor ihnen drehte sich um und sagte mit wildem Blick: Der Clapton sieht doch aus wie Peter Handke! Dengler wollte antworten, dass er nicht wisse, wie Peter Handke aussehe, aber die Band schlug die ersten Töne von Dear Mr. Fantasy an, einst von Winwoods Traffic aufgenommen: nun die einzige Zugabe.
    Dengler und Olga gingen schweigend und untergehakt zurück zur S-Bahn.

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16. Dritter Tag
    Dirk Assmuss war schon zwei Stunden wach.
    Er wartete auf seinen Entführer.
    Seltsam, dass ich mich darauf freue, dass er

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