Die letzte Flucht
denken.
Immer wieder: Was verkaufen Sie wirklich?
Arzneien!
Medikamente!
Pillen!
Was verkaufen Sie wirklich?
Ein Irrer. Ich bin einem Irren in die Hände gefallen.
Er schrie.
Er schrie, so laut er konnte.
Er schrie »Hilfe« und »Hilfe, ich wurde entführt«, er schrie »Hört mich hier jemand« und »Hallo«, bis die Stimmbänder schmerzten und er nur noch krächzte.
Er zerrte an den Fesseln, bis die Haut aufriss und die Gelenke brannten.
Er nutzte die Bewegungsfreiheit, die ihm die Kette ließ, lief vor dem Bett auf und ab, versuchte, das Bett zu verrücken, und begriff, da es sich nicht einmal um Millimeter bewegen ließ, dass die Füße am Boden festgeschraubt waren.
Was verkaufen Sie wirklich?
Er versuchte zu schlafen.
Was verkaufen Sie wirklich?
Als die Verzweiflung am größten war, betete er: Vater unser, der du bist im Himmel, zu uns komme dein Reich und deine Herrlichkeit, dein Wille geschehe im Himmel …
Irgendetwas stimmte nicht. Das Vater unser ging anders.
Erneut: Vater unser, der du bist im Himmel und auf Erden, gib uns unser tägliches Brot und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Amen.
Erlöse mich!
Eigentlich aber dachte er unaufhörlich: Was verkaufen Sie wirklich?
What do you really sell?
Um sich abzulenken, übersetzte er den Satz ins Französische.
Qu'est-ce que vous vendez vraiment?
Stimmte das?
Er hatte zwei Auslandssemester an der Sorbonne studiert. Das Quartier Latin war damals noch kein saniertes Touristenviertel gewesen, sondern eine heruntergekommene Ecke, die billige Wohnungen für Studenten und schräge Vögel, Kleinkriminelle und Musiker bot. Er war seiner damaligen Freundin Marlies gefolgt, die aus Ahrweiler stammte, blond, drall, lebenslustig, die älteste Tochter eines örtlichen Metzgermeisters. Die Pakete, die ihre Eltern ihr monatlich schickten, waren Anlass zu großen Stockwerksfeten im Straußäcker Studentenwohnheim in Stuttgart-Vaihingen.Dosen mit Bierwurst, Leberwurst, Lyonerwurst, Kringel von Fleisch- und Blutwurst, Knödel und eingeschweißtes frisches Sauerkraut wurden unter großem Hallo ausgepackt. Dirk spendierte zwei große Korbflaschen Lambrusco, billiger, aber bezahlbarer Fusel mit Kopfwehgarantie. Ein Kommilitone von der schwäbischen Alb steuerte Schnaps bei, den sein Großvater noch selbst brannte.
Nach einem dieser glorreichen Besäufnisse hatte Dirk den ersten und einzigen Filmriss seines Lebens. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie er aus dem großen, wenn auch sterilen Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss in sein Zimmer im sechsten Stock gekommen war. Als er aufwachte, lag Marlies neben ihm und schnarchte. Seit diesem Tag war sie seine Freundin.
Er wusste immer, dass seine Beziehung zu ihr gefährdet war. Marlies lachte gern, sie mochte Männer, das sagte sie unumwunden. Kräftige Männer seien ihr am liebsten, auch das sagte sie, Männer, wie sie wohl im heimatlichen Ahrweiler oder eben in einer Metzgerfamilie vorkamen. Assmuss war damals noch nicht so rund wie heute, aber schlank war er nie gewesen. Damals, zum ersten Mal, war er froh über seine Statur gewesen.
Ihr zuliebe kaufte er sich ein albernes T-Shirt mit der Aufschrift: »Ich bin Fleischfresser! Und Du?« Es sollte den damals bereits aufkommenden Vegetarismus unter den geisteswissenschaftlichen Studenten aufs Korn nehmen. Assmuss vermutete von Anfang an, dass der Scherz nicht ganz gelungen war. Marlies jedenfalls lachte, als sie den Spruch auf seiner Brust las.
Als sie ihm sagte, dass sie ein oder zwei Semester in Paris studieren wollte, blieb ihm nichts anderes übrig als mitzugehen. Er hielt das für eine romantische Idee. Aber Romantiker war er noch nie gewesen. Ihm schien es sinnvoller, das Studium möglichst schnell abzuschließen und dann Geld zu verdienen, dann konnten sie immer noch nach Paris fahren,dann konnten sie sich bessere Hotels leisten und mussten nicht in einer Bruchbude im Quartier Latin wohnen.
Marlies ließ sich nicht umstimmen.
Sie wohnten in einer Wohngemeinschaft im dritten Stock in einer kleinen Gasse, einer Nebenstraße der Rue Boutebrie . Unter ihnen wohnte eine unübersehbare Gruppe von Studenten aus Ecuador, die lange schliefen, Marlies auf den Geschmack von Gras brachten und spanische Literatur, Musik oder etwas ähnlich Nutzloses studierten.
Pablo war der Längste von ihnen, ein schmaler Typ mit schulterlangen Haaren und großer
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