Die letzte Flucht
sie mit Volldampf los und ist nicht mehr zu stoppen, bis sie ihr Ziel erreicht hat.
Jörg Schöttle, der stellvertretende Teamleiter, setzte sich auf den Besucherstuhl, ihrem Schreibtisch gegenüber.
»Unser Kindermörder hat Ausgang bekommen?«
»Voss?«
»Er wird in die Charité gebracht. Angeblich wegen einer Krankheit, die er hat.«
Sie las weiter in einer Akte, ohne den Kopf zu heben.
»Woher weißt du das?«
»Ich kenne jemand in Moabit.«
»Und? Geht uns das was an?«
»Nein. Das ist Sache der Justizverwaltung. Die schicken ein paar von ihren Bütteln mit.«
»Also geht es uns nichts an?«
»Nein.«
»Und warum erzählst du es mir dann?«
»Nur so. Ich dachte, es interessiert dich.«
»Der Fall ist für uns erledigt. Voss sitzt. Fertig. Nächster Kandidat.«
»Nun ja, ich dachte …«
»Wann wird er ausgeführt?«
»In zwei Tagen. Morgens zehn Uhr.«
»Nicht mehr unser Bier.«
Jörg Schöttle stand auf.
»Ich wollt’s nur gesagt haben.«
Er war sicher, dass Finn übermorgen um zehn Uhr im Präsidium hinter ihrem Schreibtisch sitzen würde.
Abrufbereit wie immer.
Jörg Schöttle ging zur Tür.
Wie leicht sie doch zu lenken ist, dachte er.
Er konnte den Erfolg seiner Chefin nicht verstehen. Er hielt ihn eher für ein Missverständnis. Zu oft hatte er gesehen, wie unsicher sie war, wie sie um manchen Einsatzbefehl mit sich gerungen hatte, das Team um Rat fragte, ihre Meinungen dann abgewogen und oft genug etwas ganz anders entschieden hatte. Finn entschied nach reiner Intuition, allein nach dem Bauchgefühl – und bisher hatte sie einfach Glück gehabt.
Jeder wusste, dass es Finn gewesen war, die Voss zur Strecke gebracht hatte, auch wenn Kriminaldirektor Wirges die Leitung der Sonderkommission innegehabt hatte. Ich schütze meine Leute, indem ich mich vor sie stelle, hatte er auf einer internen Besprechung gesagt. Eher: vor die Kameras stelle, rief ein Kollege aus den hinteren Reihen. Alle lachten, nur Wirges tat so, als habe er die Bemerkung nicht gehört, und fuhr in seinem Vortrag fort. Aber konnte man sich Finnvor einem Meer von Mikrofonen vorstellen? Ihre trockene Art vor laufenden Kameras? Das ging gar nicht, da war sich Schöttle sicher.
Schöttle wollte von Finn lernen. Er wollte auch über dieses Bauchgefühl verfügen. Er war mehr der Systematiker. Spuren sichten, Spuren gewichten, Ressourcen planen und einteilen. Das hatte er Finn voraus. Da war er sicher. Er war moderner. Aber das Bauchgefühl – das ging ihm ab. Das wollte er von Finn lernen, dann wäre er ein richtiger Fahnder. Finn Kommareck war genauso alt wie er. Wenn er vorwärtskommen wollte bei der Berliner Polizei, dann konnte er nicht auf Finns Pensionierung warten.
Aber zunächst stand er treu zu seiner Chefin. Seine Zeit würde noch kommen.
***
Als Schöttle die Türe hinter sich geschlossen hatte, wählte Finn Kommareck eine Nummer.
»Wieso erfahr ich nichts davon, dass der Voss ausgeführt wird?«
Sie hörte sich zehn Sekunden lang die Erklärung auf der anderen Seite der Leitung an.
»Ich verlange, dass ein Sondereinsatzkommando diesen Ausflug begleitet. Der Mann ist ein Mörder, es gibt ein großes, sogar ein herausragendes öffentliches Interesse an dem Fall. Sie haben es ja selbst befeuert.«
Wieder hörte sie zehn Sekunden ihrem Gesprächspartner zu.
»Ich schreibe jetzt eine Aktennotiz, dass ich auf dem Einsatz des SEK s bestanden habe. Es liegt dann in Ihrer Verantwortung, wenn irgendetwas …«
Ihr Gesprächspartner unterbrach sie, still folgte sie dem, was am anderen Ende der Leitung verfügt wurde. Dann legte sie grußlos auf.
»Warum nicht gleich so«, sagte sie leise und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
***
Am Abend ging sie mit ihrem Mann aus. Das kam selten vor, doch seit Wochen lag ihr Daniel in den Ohren, er wolle ihr unbedingt seinen »Lieblingskriminellen« vorstellen.
»Er ist vom Himmel belohnt mit der Gabe zu malen, richtig gut sogar, aber gleichzeitig ist er gestraft mit einem völligen Mangel an Fantasie. Er kann malen, aber sich nichts ausmalen«, sagte Daniel, als sie Marzahn bereits durchquert hatten und nun auf der Landsberger Chaussee weiter ostwärts fuhren.
»Und was macht er dann?«
»Er kopiert.«
»Er kopiert?«
»Es ist der beste Kunstfälscher, den ich kenne. Ich habe ihn vor ein paar Jahren Knast bewahrt. Im Gegenzug berät er mich und gibt mir auch Tipps. Wir sind Freunde geworden. Ich möchte, dass du ihn kennenlernst.«
Er bog in eine
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