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Die letzte Flucht

Die letzte Flucht

Titel: Die letzte Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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ein Naturereignis.
    Dengler starrte in rotgeränderte Augen, die von einer schwarzen Brille gerahmt wurden.
    »Schlecht. Ich fürchte, dass der Morbus Crohn gerade einen gehörigen Sprung nach vorne macht.«
    Seine Stimme klang heiser, als wären seine Stimmbänder mit Schleifpapier geschmirgelt.
    »Deine Medikamente hast du?«
    Voss nickte.
    »Wer behandelt dich?«
    »Professor Schulz von der Charité.«
    »Dr. Georg Schulz, der rotarische Freund aus dem Club Gendarmenmarkt?«
    Voss nickte.
    »Ich tue, was ich kann, versprochen, Bernhard!«, sagte Lehmann schnell. »Wir müssen jetzt aber an deiner Verteidigung arbeiten. Das ist wichtig. Die andere Seite, die Staatsanwaltschaft, hat ernst zu nehmende Geschütze aufgefahren.«
    »Herr Voss«, sagte Dengler, »ich bin Privatermittler. Ich bin dazu da, Ihnen zu helfen. Ich denke, es wäre nicht schlecht, wir könnten die letzten vierundzwanzig Stunden vor dem Mord rekonstruieren, besser sogar die letzten beiden Tage vor Ihrer Verhaftung. Aber vielleicht beantworten Sie mir zuerst eine wichtige Frage.«
    Voss wandte langsam den Kopf und sah nun Dengler direkt an, als sehe er ihn zum ersten Mal. Dann nahm er die Brille ab und rieb die Augen mit dem Handrücken.
    Diese Szene als Film in YouTube gestellt, dachte Dengler, und jedermann würde ihn für einen Verbrecher halten.
    »Sie haben geweint«, sagte Dengler, so rücksichtsvoll er konnte.
    Voss schüttelte den Kopf.
    »Ich bin wütend.«
    »Ein Mädchen ist umgekommen«, sagte Lehmann. »Sag uns ganz ehrlich, Bernhard, und vergiss nicht, ich bin dein Verteidiger und dein Freund: Hast du etwas mit diesem Mord zu tun?«
    Voss’ Kopf flog herum. Dengler sah seine Augen nicht mehr. Still verfluchte er Lehmann. Er hätte diese Frage stellen sollen.
    Voss war aufgesprungen.
    »Nein.«
    Dann lauter: »Nein.«
    Dann leiser: »Das alles ist absurd.«
    Jetzt liefen aus den geröteten Augen zwei Tränen.
    Es sieht widerlich aus, dachte Dengler.
    »Ich hole einen Arzt«, sagte Lehmann und ging zur Ausgangstür.

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19. Finn Kommareck
    Finn.
    Als Kind hatte sie diesen Namen gehasst. Niemand hieß so, und niemand in der Schule kannte jemanden, der so hieß. Findelkind, Finnwal, nannten sie die anderen Kids, manchmal auch Huckleberry Finn, den mochte sie wenigstens, lieber jedenfalls als den geschniegelten Tom Sawyer. Jetzt hatte sie einen labilen Frieden mit ihrem Vornamen geschlossen. Ihre Eltern nannten sie so, angeblich weil sie in Irland gezeugt worden war. Ihre Mutter erklärte es ihr jedes Mal, wenn sie zu viel Southern Comfort getrunken hatte. Sie heulte dann schnell und wurde weich und sentimental. Finn hasste das. Damals erprobte die Mutter mit ihrem Vater das erste Mal eine Art alternatives Leben, und sie suchten sich ausgerechnet Irland dazu aus.
    »Wir waren Künstler, und Irland schätzt Künstler. Wir brauchten dort keine Steuern zu bezahlen.«
    »Mama, in keinem Land der Welt hättest du jemals genug verdient, um auch nur einen Cent Steuern zu zahlen.«
    »Ich habe genug Steuern bezahlt in meinem Leben.«
    »Du?«
    »Mehrwertsteuer. Bei jeder Kleinigkeit bezahle ich Steuer. 19 Prozent. Mir reicht das.«
    Finn bedeutet auf Irisch hell oder gar weiß. Tatsächlich war die Hauptkommissarin Finn Kommareck hellblond. Sie trug kurz geschnittene Haare, einen Männerschnitt, wie ihre Kollegen hinter ihrem Rücken lästerten. Überhaupt stand sie im Präsidium eine Weile unter Lesbenverdacht, bis sie heiratete, den Kollegen Hauptkommissar Daniel Kommareck, der im Kunstdezernat des LKA arbeitete und ein ganz und gar ungewöhnlicher Kriminalbeamter war, einer, der stets ein Einstecktuch trug und der eher aussah wie ein Kunsthändler, jemand also, der in den Diskussionen im Präsidium als Beweis dafür herangezogen wurde, dass die Delikte, die ein Polizist ermittelte, auf die Dauer seinen Charakter und sein Aussehen bestimmten.
    Die Hauptkommissarin Finn Kommareck war klein, 1,62 Meter groß, und von knabenhafter Gestalt, trotz eines beachtlichen Busens, wie jedermann im Präsidium registrierte, durchtrainiert, mit klarem Blick, deutlicher Aussprache, eine, von der man sagte, sie nehme kein Blatt vor den Mund. In den oberen Etagen des Präsidiums galt sie als fachlich kompetent, hartnäckig und fleißig, aber als persönlich schwierig. Sie leitete das erfolgreichste Fahnder-Team. Einer der leitenden Herren beschrieb sie in einer Konferenz einmal so: Die Kommareck muss man nur auf die richtigen Gleise setzen, dann prescht

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