Die letzte Flucht
Seitenstraße ein und hielt schließlich vor einem verwilderten Grundstück. Sie gingen an einer hohen, wild wuchernden Hecke vorbei, bis sie zu einem vergitterten, mit zwei Schlössern gesicherten Tor kamen. Daniel rief etwas, dann schlurfte Felix Kunert aus dem dahinterliegenden Haus heran und schloss auf.
Felix Kunert trug einen dunkelblauen, mit Farbe beschmierten Arbeitskittel. Er war klein, Finn schätzte ihn auf 1,65 Meter, völlig kahl, aber mit einem breiten, an den Mundwinkeln herabhängenden Oberlippenbart. Aus einem wachen Gesicht strahlten zwei braune wache und freundliche Augen.
»Sieh an. Der Daniel Kommareck mit seiner Frau«, knurrte er und schloss das Tor hinter ihnen. »Ihr Mann lässt mirkeine Ruhe«, wandte er sich an Finn. »Er ist schlimmer als die Stasi.«
»Übertreib nicht, Felix. Heute will ich mal keine Informationen von dir.«
»Aber meinen Schnaps.«
»Ja, den schon.«
Es wurde ein gelungener Abend. Sie saßen in Kunerts Atelier, tranken viel, lachten, und der Maler stellte ihnen eine Reihe von neuen Bildern vor, Kopien von Cranach und El Greco.
»Nur zur Übung«, sagte er. »Verkaufe ich nicht. Ehrenwort.«
Sie fuhren mit dem Taxi zurück in ihre Wohnung.
»Er ist nicht dein Freund«, sagte Finn, als sie fast zu Hause waren. »Du zwingst ihn, dir Tipps zu geben. Das macht er sicher nicht gern. Wenn du wirklich sein Freund wärst, würdest du das nicht von ihm verlangen.«
Daniel wollte etwas sagen, aber da hielt das Taxi vor ihrer Tür.
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20. Christine Leonhard-Voss
»Frau Voss, morgen Vormittag wird Ihr Mann in die Charité gebracht. Er wird von Professor Schulz untersucht.«
»Kann ich ihn begleiten?«
»Das wird wohl nicht möglich sein. Die Ausführung zum Arztbesuch wird streng bewacht.«
»Kann ich meinen Mann wenigstens sehen?«
»Auch das wird schwierig werden. Die Justizverwaltung geht kein Risiko ein. Er wird permanent von vier Justizbeamten bewacht. Er wird ständig gefesselt sein. Dr. Lehmann undich begleiten ihn. Ich kann ihm gern etwas von Ihnen ausrichten, eine Nachricht überbringen.«
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf.
Christine Leonhard-Voss saß aufrecht auf der Couch. Den Rücken hielt sie senkrecht, er berührte die Lehne aus weißem Leder nicht. Die Beine standen streng, fast rechtwinklig nebeneinander. Die Hände lagen gefaltet auf ihren Knien. Sie trug ein helles Leinenkostüm, Ohrringe mit einem dunkelblauen Stein, die ihre blonden oder blondierten Haare – Dengler konnte das nicht unterscheiden – gut zur Geltung brachten. Sie hatte nicht geweint, zumindest waren ihre Augen nicht gerötet, aber im Gegensatz zu ihrer aufrechten Haltung zeugte ihr Blick von mitleiderregender Müdigkeit.
»Frau Voss, ich habe es Ihnen ja schon kurz gesagt, ich bin privater Ermittler. Dr. Lehmann hat mich engagiert. Wir arbeiten an der Verteidigung Ihres Mannes.«
Sie sah ihn an.
»Ich bin auf Ihrer Seite und werde Ihnen helfen. Trotzdem muss ich Sie fragen: Können Sie sich vorstellen, dass an den Vorwürfen gegen Ihren Mann irgendetwas wahr sein könnte?«
»Nein, natürlich nicht.«
Ihre Stimme klang fest.
»Weil Sie Ihren Mann genau kennen?«
»Ich kenne Bernhard. Und ich kenne die Männer.«
Dengler kniff die Augen zusammen und verschob den Kopf ein wenig, um die Frau besser sehen zu können.
»Ich bin Frauenärztin. Ich weiß, wozu Männer in der Lage sind. Ich habe es oft genug sehen müssen. Ich habe es oft genug wieder heilen müssen.«
»Sie glauben also …«
»Ich glaube nicht. Ich weiß , dass Bernhard dieses Mädchen nicht vergewaltigt hat.«
Dengler wartete.
»Es gibt Männer, die vergewaltigen, das sind einige, viel zuviele, es gibt andere, die würden es tun, wenn sie könnten oder in eine Situation kämen, in der es möglich wäre. Und es gibt Männer, die es selbst dann nicht tun würden, tun könnten, wenn sie ungestraft davonkämen. Das sind vielleicht nicht viele, aber Bernhard ist einer davon. Nicht zuletzt aus diesem Grund habe ich ihn geheiratet, und genau deshalb ist er der Vater meiner Töchter.«
»Wo sind Ihre Töchter jetzt?«
»Ich habe sie ein wenig« – sie machte eine fahrige Bewegung mit der Hand – »aus dem Strudel rausgebracht.«
»Sie wissen, dass an der Leiche von Jasmin Berner Sperma Ihres Mannes gefunden wurde.«
»Man hat es mir gesagt.«
»Können Sie sich das erklären?«
»Nein.«
»Sperma verliert man nicht unbemerkt.«
»Das ist mir, weiß Gott, bekannt.«
»Die Spermien
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