Die letzte Flucht
ich in meine Praxis und er in die Charité. Das war's.«
»Haben Sie tagsüber Kontakt?«
»Ja. Wir rufen uns ein- oder zweimal täglich an.«
»Warum?«
»Warum? Weil wir Sehnsucht nacheinander haben. Weil wir etwas erlebt haben, das wir mit dem anderen teilen wollen. Weil ich seine Stimme hören will. Deshalb.«
»Sie führen eine gute Ehe?«
»Wir führen unsere Ehe. Ich mag unser Leben. Zu keinem Zeitpunkt wollte ich ein anderes haben. Ich lebe so, wie ich es will. Mit dem Mann, den ich will, und zwei hinreißenden Töchtern.«
Sie atmete tief ein. Einmal, zweimal. Sie rang um ihre Fassung.
»Gibt es ein Geheimnis Ihrer Ehe?«
Diese Frage hatte nun entschieden nichts mit dem Fall zu tun. Gab es glückliche Ehen? Er kannte keine. Seine Ehe mit Hildegard war irgendwann zu einer Katastrophe geworden. Dass er mit Olga so zufrieden war, führte er auch darauf zurück, dass sie nicht verheiratet waren.
»Geheimnis? Es gibt kein Geheimnis.«
Sie zögerte einen Augenblick.
»Vielleicht doch«, sagte sie. »Wir sind beide mit Leib und Seele Mediziner. Wir kennen uns aus dem Studium. Ichhabe ihn unterstützt, als er promovierte. Wir wollten nie aus Karrieregründen Ärzte werden. Ich wollte Frauen helfen. Das ist mein Lebensplan. Er will den Menschen durch seine Forschung helfen, er ist Wissenschaftler. Er will das Gleiche wie ich, aber auf eine etwas andere Art.«
Sie hob den Arm und legte die Hand wieder sachte auf ihr Knie.
»Unser Lebensziel, die Sache, der wir uns verschrieben haben, ist vielleicht für uns beide das Wichtigste. Wir wären nicht miteinander verheiratet, wenn das nicht so wäre. Verstehen Sie?«
Dengler nickte, obwohl er es nicht verstand. Zum ersten Mal reifte in seinem Kopf eine Idee: Wie wäre es, wenn Olga und ich verheiratet wären? Würde das funktionieren? So gut wie bei dem Ehepaar Voss?
»Die Liebe zum Heilen steht bei uns an erster Stelle, und daher haben wir viel Platz für unsere Liebe zueinander. So ist das bei uns.«
»War Treue, ich meine Untreue, je ein Thema zwischen Ihnen?«
Ihre Haltung blieb wie zuvor, aber nun rieb sie die beiden Handflächen aneinander und fuhr dann mit den Fingernägeln an der Innenseite der linken Hand entlang. Sie war nervös. Das sagte nicht nur der FBI – Lehrgang zu dieser Geste. Es war eindeutig, aber vermutlich das Mindeste, was man bei einer Frau erwarten konnte, deren Mann wegen Kindsmord verhaftet worden war.
Sie sah ihn wieder an.
»Nein. Wir sind beide treu. Ich bin treu, und er ist es auch. Aber es ist nicht so, dass wir dabei das Gefühl haben, auf etwas zu verzichten. Wir … Es ist einfach so. Es fällt uns nicht schwer.« – Sie zögerte einen Moment – »Es … Wir haben uns nie Treue geschworen. Ich, nun ja, hätte am Anfang unserer Ehe auch nicht die Hand ins Feuer gelegt für meine sexuelle Treue. Aber es hat sich einfach so ergeben.«
»Wann sahen Sie sich – nachdem Sie beide zur Arbeit gefahren waren – das nächste Mal?«
»Am Abend. Als ich nach Hause kam, lag er auf dem Sofa. Hier auf diesem. Er hatte wohl etwas zu viel getrunken.«
»Kam das öfter vor?«
»Eigentlich nicht. Nur, wenn er mit seinem Bruder unterwegs war. Sein Bruder feiert gerne. Bernhard auch, aber Rüdiger, mein Schwager, ist etwas, man kann sagen: lebhafter. Und trinkfester. Die beiden gehen einmal im Monat zusammen aus, und dann passiert es leicht, dass …«
»Um wie viel Uhr kamen Sie nach Hause?«
»Kurz nach Mitternacht.«
»Und was haben Sie getan?«
»Wie meinen Sie das? Ich habe geduscht und bin ins Bett gegangen.«
»Und Ihren Mann haben Sie auf dem Sofa liegen lassen?«
»Ich hab ihn zugedeckt. In meinem Bett mochte ich ihn in diesem Zustand lieber nicht haben. Einen Mann, der nach Kneipe und Alkohol stinkt …«
»War er … schwer betrunken?«
»Er hatte ordentlich getankt, wie man so sagt. Offenbar so viel, dass er es nicht mehr unter die Dusche und ins Bett geschafft hat.«
»Und dann?«
»In der Nacht kroch er irgendwann zu mir. Müde, aber immerhin geduscht. Und am Morgen war es wie jeden Tag, außer dass er zwei Aspirin nahm. Noch vor dem Frühstück.«
»Keine Veränderung an ihm?«
»Nein. Außer dem Kater keine Veränderung. Er hat dieses Mädchen nicht umgebracht.«
Dengler sah sie an.
»Er war’s nicht. Er könnte es nicht.«
»Ich möchte mit Ihnen über das Jackett sprechen. Die Polizei hat ein Jackett beschlagnahmt. Ein schwarz-weißes Jackett. Wo war dieses Jackett?«
»Es hing in
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