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Die letzte Flucht

Die letzte Flucht

Titel: Die letzte Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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die fünfzig zu und muss eine sturmfreie Bude organisieren wie ein Teenager.
    Jan, ihr Sohn, war mit einigen Freunden nach München zu einem Konzert von Jay-Z geflogen, und sie hatte einen Abend frei. Einen ganzen Abend – und vor allem eine ganze Nacht.
    Sie hatte das blaue Kleid angezogen, das mit fließendem Stoff ihre Kurven betonte und das Füllige ihrer Figur in reinen Sex verwandelte. Sie hatte das Kleid zunächst ohne BH angezogen, kam sich aber ordinär vor, weil man trotz des dünnen Stoffes ihren Busen in allen Einzelheiten sehen konnte. Deshalb hatte sie den dunkelblauen Büstenhalter gewählt, der gut zum Kleid passte und der einige Millimeter Spitze aus dem Dekolleté blitzen ließ.
    Sie lächelte über sich selbst.
    Ich bin rollig, dachte sie, ich bin rollig wie eine läufige Katze. Was für ein Vergleich! Sie musste kichern.
    Seit sie Jürgen Kettelmann das erste Mal gesehen hatte, in jenem denkwürdigen Urlaub im Schweizer Waldhaus, hatte sie über ihre Ehe oder, präziser ausgedrückt, über ihr Leben nachgedacht. Dabei war in diesem Urlaub noch gar nicht viel passiert. Die Kettelmanns saßen beim Abendessen am gleichen Tisch, man unterhielt sich, man kam in etwa aus der gleichen sozialen Sphäre, der Manager eines großen internationalen Konzerns und der mittelständische Unternehmer, zwei Herren mit Gattinnen, zwei reiche Paare, obwohl sie selbst dieses Wort natürlich niemals benutzt hätten, kulturbeflissen, kenntnisreich in Fragen Bildender Kunst und natürlich klassischer Musik, beide hatten mehr als einmal Lang Lang gesehen, auch Fazıl Say, aber den mochte Luise Kettelmann nicht so sehr: Say verzettele sich mit seinen wechselnden Stilen, sagte sie, ihr sei er zu unruhig, zu wild.
    Birgit wusste nicht, warum diese Gespräche so anstrengend waren. Die Männer sprachen über Zigarren und Autos. Die Kettelmanns berichteten von ihrem Winterurlaub. Sie liebten Tiefschneefahren. In Usbekistan seien sie gewesen. Dort gebe es noch gigantische Abfahrten bei jeder Menge frischem, tiefem Powder. Mit dem Helikopter seien sie auf absolut noch nie befahrene Gipfel geflogen. Fantastische Abfahrten. Die Paare plauderten dann über Kunst, Malerei und die diesjährige Art Basel, auf der Assmuss stets zum first view geladen war. Bianca Jagger sei auch da gewesen. Hat mir eine schöne Arbeit vor der Nase weggekauft. Birgit sah, wohl eher zufällig, zu Kettelmann hinüber, und der wendete den Blick ab. Hoppla, dachte sie, er hat mich angesehen, vielleicht schon die ganze Zeit. Dieser Gedanke weckte ihre Neugier. Hatte er sie betrachtet, ohne dass sie es bemerkt hatte? Warum?
    Sie wartete eine Weile. Dirk berichtete gerade, dass er in manchen Monaten mehr Zeit im Flugzeug verbringe, als einem Piloten aus gesundheitlichen Gründen gestattet sei, wegen Strahlung und so weiter. Da wandte sie den Kopf unvermittelt zu Kettelmann – und sah direkt in seine Augen. Eine süße Zehntelsekunde sahen sie sich an, dann wandte er sich erneut ab, und Birgit war sich nun ganz sicher.
    Diese Entdeckung erregte sie. Die Unterhaltung am Tisch färbte sich für sie erotisch. Kettelmann interessiert sich für mich, sieh mal an, dachte sie sich. Sie wurde lebhafter, beteiligte sich mehr am Gespräch, sie fragte ihn nach seinen Hobbys, und für Momente schien es ihr so, als würden nur er und sie am Tisch sitzen.
    In der Nacht konnte sie nicht schlafen. Dirk, der viel von dem französischen Rotwein getrunken und darauf bestanden hatte, die Rechnung zu übernehmen, röchelte leicht neben ihr, wie er es jede Nacht tat. Kettelmann hatte gesagt: Dann sind wir aber morgen dran. Und sie hatte, vielleicht zu schnell, gesagt, dass das eine gute Idee sei.
    In dieser Nacht überdachte sie ihr Leben, beziehungsweise: Sie überdachte ihr nonnenhaftes Leben. So war es doch. Sie war verheiratet, aber sie lebte wie eine Nonne. Keusch, unberührt. Ungefickt, dachte sie. Ungefickt, wiederholte sie und kam sich verwegen vor, weil sie ein solches Wort gedacht hatte. Ob das in allen Ehen so ist? Ob die Kettelmanns noch Sex hatten? Dirk jedenfalls rührte sie schon lange nicht mehr an.
    In Gedanken über ihr Unglück schlief sie ein.

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34. Sehnsucht
    Bernhard Voss sehnte sich nach seiner Frau.
    Was sie wohl gerade tut?, dachte er.
    Er sah sie vor sich, wie sie im Wohnzimmer auf der Couch saß. Vielleicht hatte sie eine Flasche Rotwein aufgemacht,vielleicht waren die Mädchen gekommen, um ihr beizustehen. Sie redeten über ihn. Ob sie an seine

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