Die letzte Flucht
sobald alles vorüber war, an ihren Mann dachte. Wo Dirk jetzt wohl war? Morgen würde er von der Südamerikareise wieder zurück sein. Nur eine SMS hatte er geschickt, nicht ein einziges Mal angerufen.
Ihre Hand suchte den schlafenden Kettelmann.
»Wie geht’s dir?«, sagte sie.
»Verdammt gut. Und dir?«
»Auch sehr gut«, sagte sie.
Das stimmte und stimmte auch nicht.
Eben noch war der Körper Kettelmanns aufregend gewesen, hatte sie geil gemacht wie noch nie in ihrem Leben, so war es ihr jedenfalls vorgekommen – und jetzt? Jetzt hatte sie das Gefühl, als läge da totes Fleisch, das in ihrem Bett nichts zu suchen hatte. Sie fühlte sich gut, aber Kettelmann störte in ihrem Ehebett. Er würde da liegen bleiben bis morgen früh, da war nichts zu machen.
Plötzlich freute sie sich auf Dirk und stellte sich vor, wie sie ihn begrüßen würde. Sicher nicht mit Erdbeeren, dachte sie.
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38. Vierter Tag (5)
Am gleichen Abend führten sie das Gespräch fort. Henry hatte Bier und Pizza mitgebracht, außerdem einige Zeitungen.
»Immer noch nichts«, sagte Assmuss und setzte die Bierflasche an den Mund. »Ich versteh das nicht. Die Zeitungen berichten nichts von meiner Entführung. Meine Firma müsste doch schon … Ich versteh’s einfach nicht.«
»Ich fasse unser Gespräch von heute zusammen: Die Pharmaindustrie forscht nicht wirklich, sie motzt nur alte Medikamente auf, weil das billiger ist, als neue innovative Arzneien zu entwickeln. Wenn es eine Innovation gibt, dann kommt die aus öffentlichen Uni-Kliniken, weitgehend finanziert mit öffentlichen Geldern. Die Ergebnisse dieser Forschungen kaufen die Firmen günstig und verdienen viel damit. Ist das so weit richtig?«
»Ich würde das anders ausdrücken.«
Henry fragte: »Die angeblichen neuen Medikamente bringen Sie mit einem riesigen Marketingaufwand bei den Ärzten unter. Wie funktioniert das?«
»Nun, wir haben unsere Pharmareferenten. Etwa 20 000 gibt es davon in Deutschland. Wir allein beschäftigen etwa 3000.«
»Pharmareferent. Mmh. Ich habe noch keinen kennengelernt. Was macht ein Pharmareferent?«
Er sagte: »Unter uns: Es ist ein Scheißjob. Wir sammeln die abgebrochenen Mediziner ein, Biologen ohne Job, Studienabbrecher aller Art. Die Leute sind sprechendes Marketingmaterial.«
»Sie sind was?«
»Sprechendes Marketingmaterial. So sagen wir dazu, auf Vorstandsebene.«
»Was tun diese Leute?«
»Das kann ich Ihnen genau sagen, Henry: An ein oder zwei Tagen im Jahr gehe ich mit meinen Leuten raus, an die Front, also zu den Verordnern. Schließlich muss ich ja wissen, wie die Arbeit dort läuft. Erstaunlicherweise finden meine Leute das gut, sie finden es toll, dass der Chef an ihrem Arbeitsalltag teilnimmt oder so etwas Ähnliches.«
Assmuss lachte sein Lachen, das wie ein Meckern klang.
»Diese Arbeit«, fuhr er dann fort, »das habe ich dabei bemerkt, hat etwas Absurdes an sich. Es ist ein Scheißjob. Ein normaler Arztbesuch dauert oft nur wenige Minuten. Aberfür die paar Minuten wartet der Pharmareferent oft Stunden, sitzt im Wartezimmer, schleicht durch die Gänge der Klinik, hockt stundenlang in der Cafeteria. Die Verordner haben immer weniger Interesse an einem wirklich vertieften Gespräch mit den Pharmareferenten. Dazu kommt: Wir machen strenge Vorgaben: Ein Referent von Peterson & Peterson muss zehn Besuche pro Tag erledigen. Über jeden Besuch wollen wir einen Bericht. Manchmal erfinden die Referenten Teile ihres Berichts, denn wahr ist, dass die meisten Verordner höchstens einen knappen Händedruck für sie übrig haben. Manche unserer Leute müssen sich mit einer Arzthelferin zufriedengeben. Manche Ärzte sind betont schroff, um sie sich vom Leib zu halten. Denn Sie müssen wissen: Bei der großen Zahl an Firmen bekommt jeder Arzt mehrmals am Tag Besuch vom Pharmareferenten. Motivierend ist das alles nicht. Wir feuern pro Jahr fünf oder sechs Mitarbeiter, wenn’s geht fristlos, um die Moral in der Truppe zu halten – aber es ist und bleibt ein Scheißjob.«
»Die kommen zu den Ärzten gar nicht durch?«
»Es wird immer schwieriger. Deshalb arbeitet die Branche lange schon mit diesen Geschenken, von denen wir schon sprachen. Mit Einladungen zum Abendessen kann man nicht mehr landen. Wer will schon mit einem Pharmareferenten zu Abend essen? Und dabei möglicherweise noch von einem Kollegen gesehen werden? Die alten Witwer gehen gern mal mit einer jungen Referentin aus, aber das hat alles keine rechte
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