Die letzte Flucht
Euro. Damit hinterher etwas Schlechteres dasteht. Macht das Sinn?«
»Komm, wir gehen irgendwohin und trinken was, und du erklärst mir das alles in Ruhe.«
Jakob lachte, klopfte seinem Vater auf die Schulter – und war verschwunden.
Die zweitausend Kids, die sich vorhin in den Straßen der Stadt getroffen hatten, strömten nun in den Schlossgarten. Dengler sah sich um. Keine Polizei zu sehen. Er war erleichtert. Er lief zwischen den Jugendlichen herum und suchte seinen Sohn.
Im Park herrschte Partystimmung. Ein Schüler, in ein Gorillakostüm gekleidet, kletterte auf einen Baum und rappte in ein Megaphon. Einige andere wiederholten den Refrain. Sie lachten, sie waren fröhlich. Sie waren hier für einen guten Zweck. Sie wollten die alten Bäume schützen, die ehrwürdigen Platanen, die die Stuttgarter sogar in den fürchterlichen Kältewintern des Krieges und in den schlimmen Jahren danach nicht gefällt hatten und die nun für den unterirdischen Neubau geopfert werden sollten.
Dengler entspannte sich.
Vielleicht hatten sie ja recht, die jungen Schüler mit ihrem Idealismus.
Plötzlich war Polizei da. Eine Hundertschaft, vielleicht zwei.
Sie zogen lange Ketten durch den Park.
Einkesselung, dachte Dengler.
Ich muss Jakob finden.
Weitere Polizisten tauchten auf. Die Beamten bildeten Fünfergruppen, standen Rücken an Rücken, wie aus Menschen gebaute Wagenburgen. Die Jugendlichen verstanden den Sinn dieser Operationen so wenig wie Dengler. Sie umlagerten die Polizisten, versuchten mit ihnen zu reden, aber die Beamten sprachen nicht.
»Wir sind friedlich! Was seid ihr?«, riefen sie ihnen zu.
Für Heiterkeit sorgte ein Schüler, der einen durchgestrichenen Stuttgart-21-Aufkleber auf die Kruppe eines Polizeipferds pappte.
Der Einsatz wirkte auf Dengler improvisiert und seltsam. Die Polizisten schienen keinem einheitlichen Kommando zu folgen. Polizeiketten zogen auf und wieder ab.
Unter den Jugendlichen herrschte immer noch heitere Stimmung.
»Wir sind friedlich! Was seid ihr?«
An einem der Bäume war ein Schild angebracht:
Diese Bäume standen schon dort, als es noch keinen Kaiser Wilhelm gab.
Dengler sah plötzlich die Wunde des toten Bernhard Voss vor sich. Warum war er erschlagen worden? War tatsächlich Rache das Motiv, wie die Bild – Zeitung vermutete? Rache war ein starkes Motiv. Sicher. Trotzdem schien Dengler dies nicht wahrscheinlich. Wer konnte gewusst haben, dass Voss in den Keller wollte? Vielleicht hing sein Tod mit den beiden roten Mappen zusammen.
Ein Trupp zivil gekleideter Polizisten lief auf die Wiese. Als Beamte waren sie nur an einer gelb-roten Weste zu erkennen mit dem Aufdruck »Polizei«. Fünf Polizisten. Sie bahnten sich den Weg zu einem der großen Bäume. Fünf Polizisten, einer davon mit einer Kamera. Er filmte die Schüler.
Diese Bäume standen schon, als Eduard Mörike noch in Stuttgart unterrichtete.
Die Beamten rempelten einige Schüler an – absichtlich, wie Dengler leicht erkennen konnte. Andere stießen sie derb zurSeite. Dengler beobachtete, wie einer von ihnen einem Mädchen kräftig auf die Brust schlug. Sie fiel rückwärts auf den Boden. Zwei Schüler, die dies gesehen hatten, protestierten.
»Das könnt ihr doch nicht machen!«
Der Polizist stieß beide zur Seite, schrie die Jungs an, kam auf sie zu, drohend, die Fäuste geballt. Sein Kollege filmte alles. Das Mädchen rappelte sich wieder auf und zog die beiden Jungs von dem Polizistentrupp weg.
Dengler folgte den fünf Polizisten zu dem Baum, den sie nun umstellten. Sofort waren sie von Jugendlichen umringt. Sie redeten auf die Polizisten ein. Dengler hörte nur Gesprächsfetzen: Wollt ihr diesen Baum fällen? Warum macht ihr das? Wir wollen doch nur die Bäume schützen. Es ist doch unser Park.
Einer der jüngeren Polizisten in dem Trupp gefiel Dengler nicht. Er trug eine schwarze Baumwollmütze mit rotem Band und hatte ein breites grünes Tuch um eine Art Tarnjacke geworfen. Wer keine gefestigte Persönlichkeit hat, schlüpft gern in eine Kostümierung, die das schwache Selbst aufmöbelt. Dieser Polizist hatte sich als Ramboverschnitt verkleidet. Solche Typen gab es. Dengler kannte genügend davon, doch bei der Polizei hatten sie nichts zu suchen, man findet sie sonst eher auf der Gegenseite. Der Typ war nervös. Er schubste ein Mädchen. Er schrie. Plötzlich schlug er ansatzlos und mit voller Wucht einem etwa sechzehnjährigen Schüler ins Gesicht. Der Junge fiel rückwärts auf den Boden,
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