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Die letzte Flucht

Die letzte Flucht

Titel: Die letzte Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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einige Mitschüler beugten sich zu ihm hinunter, kümmerten sich um ihn. Dengler fotografierte den Schläger mit der Handykamera.
    Es dauerte eine Weile, bis Dengler begriff, was er hier beobachtete: einen Eskalationstrupp. Diese Polizisten provozierten Schlägereien mit den Jugendlichen. Sie wollten Bilder gewalttätiger Demonstranten.
    Vielleicht war es ein Wunder, aber sie bekamen diese Bilder nicht. Im Gegensatz zur Polizei war diese Menschenmengeklug und trotz aller Lebendigkeit diszipliniert. Niemand zahlte es den Polizisten mit gleicher Münze heim.
    »Wir sind friedlich! Was seid ihr?«
    Wer hat diesen Einsatz befohlen, dachte Dengler.
    Dengler suchte seinen Sohn. Er wusste nun, dass die Polizei die Konfrontation wollte. Und er wusste, dass das nichts Gutes bedeutete.
    Das Alarmsystem der Stuttgart-21-Gegner funktionierte. Immer mehr Erwachsene strömten nun in den Park.
    Dann erschienen zwei Wasserwerfer.
    Wasserwerfer gegen Jugendliche?
    Wasserwerfer gegen eine Menschenmenge, die ihren Park schützen wollte?
    Wasserwerfer gegen Menschen, die die Arme hoben, um ihre Wehrlosigkeit zu demonstrieren?
    »Wir sind friedlich! Was seid ihr?«
    Eine alte Frau hob ein Blatt Papier in die Höhe, auf das sie mit einem Filzstift geschrieben hatte: Hört doch auf!
    Dengler lief durch die empörte Menschenmenge.
    Wo war Jakob?
    Er traf Mario. Er traf Martin Klein.
    Hast du Jakob gesehen?
    Nein.
    Er suchte weiter.
    Einige Schüler, vielleicht sechzehn, vielleicht siebzehn, vielleicht achtzehn Jahre alt, waren auf Bäume geklettert. Dengler hielt den Atem an. Und er glaubte kaum, was er sah. Die Wasserwerfer schossen auf die Jugendlichen auf den Bäumen. Sie schrien, klammerten sich mit aller Kraft an die Stämme.
    Kann das sein?
    Wenn die Kids herunterstürzten, konnten sie tot sein.
    Will der Bahnvorstand in Stuttgart Tote?
    Erneut donnerten Wassermassen in die Baumkronen. Die Jugendlichen schrien vor Angst.
    Nur ein Barbar konnte diesen Einsatz befehlen, dachte Dengler.
    Eine große Gruppe Schüler hatte sich vor einer Polizeikette auf den Boden gesetzt. Hinter der Polizeikette sah Dengler die beiden Wasserwerfer. Die Rohre auf die Kinder gerichtet.
    Inmitten der Kids saß Jakob.
    Noch nie hatte Dengler seinen Sohn mit einem solchen Ausdruck im Gesicht gesehen. Er blickte ernst. Er hatte Angst. Er war entschlossen. Er würde der Gewalt nicht weichen. Er hielt den Kopf aufrecht, die Augen weit offen. Sein Kind war schön auf eine neue Art, auf eine magische Art, wie er es an Jakob noch nie gesehen hatte.
    Er war in Gefahr.
    Dengler bahnte sich einen Weg durch die dicht gedrängt sitzenden Mädchen und Jungs. Er stakste wie ein Storch und musste aufpassen, dass er nicht auf Hände, Beine und Taschen trat.
    Als er Jakob erreichte, schossen die Wasserwerfer.
    Der Strahl traf ihn mit der Wucht einer Keule auf Brust und Bauch. Er wurde hochgehoben und nach hinten geschleudert. Für einige Sekunden konnte er nicht mehr atmen. Er öffnete den Mund. Er dachte, er würde ersticken.
    Nur ein Barbar hatte diesen Einsatz befehlen können.
    Jakob zog seinen benommenen Vater an seine Seite. Ein Mädchen reichte ihm ein Halstuch.
    »Wischen Sie sich trocken«, sagte sie.
    »Lass uns hier verschwinden«, sagte Dengler zu seinem Sohn.

[Menü]
46. Krisenkonferenz
    Finn Kommareck war müde.
    Besprechungen mit Vorgesetzten, leitenden Staatsanwälten, dem Polizeipräsidenten, Pressekonferenzen – das alles hasste sie. Bei diesen Leuten verstand sie nie ganz, welche Motivation sie wirklich trieb. Der nächste Job? Die aktuelle politische Intrige? Bei den Presseterminen wusste sie noch weniger, welche Gesetze hier galten. Die Schlagzeile? Die Auflage? Endlich der Job beim Spiegel ? Nur eins wusste sie genau: All diese Personen interessierte nicht das, was für sie am wichtigsten war – den Fall aufzuklären.
    Der Mord an Voss brachte das Team an den Rand der Verzweiflung. Es gab keine Tatwaffe, es gab keine Kampfspuren, es gab kein erkennbares Motiv außer dem, das die Medien hochspielten: Rache.
    Aber wer sollte sich rächen? Sie sprach mit der Familie von Jasmin. Die Eltern waren noch immer so umfassend in ihr Leid verstrickt, dass Finn Kommareck sie als Täter ausschloss. Und sie hatten ein Alibi. Die Freie Universität hatte dem Vater Urlaub gegeben, die Familie war zu Verwandten nach Tirol geflüchtet.
    Auch bei den Behörden glaubten viele an das Rachemotiv. Wenn es nicht die Eltern waren, dann vielleicht jemand, der Voss zufällig

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