Die letzte Flucht
122, nach der ein Wasserstoß »die Begehung oder Fortsetzung von Straftaten verhindern«, »das Vordringen von Störern verhindern« oder »Gewalttäter zum Zurückweichen zwingen« sollte. Nichts davon traf auf die Situation im Schlosspark zu. Außerdem, auch daran erinnerte er sich, stand in dieser Verordnung ausdrücklich: »Hierbei ist darauf zu achten, dass Köpfe nicht getroffen werden.« Einen Tag später war es offiziell: Bei dem Einsatz erlitten allein vier Personen schwere Augenverletzungen, der Rentner Dietrich Wagner verlor durch das Vorgehen der Polizei sein Augenlicht.
Die Polizei rückte an den Seiten des Parks vor. Sie sprühte Pfefferspray in die Gesichter der Menschen. Von seinem Platz aus konnte Dengler immer wieder Jugendliche, aber auch ältere Menschen orientierungslos taumeln sehen, weinend – egal in welchem Alter –, die geröteten und geschwollenen Augen mit den Armen schützend.
Martin Klein saß plötzlich neben ihm, auch er völlig nass.
»Ich hab den Notruf angewählt. Weißt du, was die mir gesagt haben? Die Polizei lässt keine Sanitäter in den Park. Hier gibt es Hunderte von Verletzten – und die Polizei lässt keine Sanitäter in den Park. Die Leute haben improvisiert und ein notdürftiges Lazarett eingerichtet.«
Nur ein Barbar hatte diesen Einsatz befehlen können.
Erneuter Wasserwerfer-Angriff.
Das blonde Mädchen griff nach Jakobs Hand, und sein Sohn hielt sie mit feierlichem Ernst. Dengler sah die schweren Blutergüsse auf ihrem Unterarm. Er wollte etwas tun, aber er wusste nicht, was.
»Ich besorg eine Plane«, sagte Klein und stand auf.
Eine halbe Stunde später war Klein zurück. Er hatte irgendwo Dutzende von bunten Planen besorgt, die die am Boden Sitzenden nun über die Köpfe zogen.
Die Plane schützte vor dem Wasser. Aber der Schlag des Wassers traf sie nun unvorbereitet, hart und brutal. Die Leute unter der Plane schrien auf, manche weinten. Aber immer noch sah Dengler in ihren Gesichtern den Ernst. Es waren mutige junge Leute, die ihre Stadt schützten. Dengler schämte sich, dass er sich bisher nicht damit beschäftigt hatte, was in der Stadt geschah. Es konnte doch nicht nur um diesen Bahnhof gehen.
Dengler sah unter der Plane hindurch die Polizisten und die Beine von Tausenden demonstrierenden Stuttgartern. Er sah stehende, zurückweichende, wieder vordrängende Beine, er sah Jeans, Kleider und Schuhe aller Art. Aber er sah auch, wie Polizeiketten sich langsam an die Blockierer heranarbeiteten. Er sah Stahlstiefel, Schienbeinschützer und schwarze Handschuhe. Der Wind trieb Pfefferspray unter die Plane. Einmal kamen zwei Polizisten nahe an die Plane heran, umringt von Demonstranten.
»Wir sind friedlich! Was seid ihr?«
Ein schwarzer Handschuh, der einen langen Behälter festhielt, schob sich unter die Plane und sprühte ziellos in die Sitzenden. Zwei Mädchen schrien. Sie kletterten aus den Reihen der sitzenden Kids. Dengler sah ihre roten Augen.
Es war nun ein Schniefen und Heulen unter der Plane. Es roch nach Pfefferspray, das der Wind nun zusätzlich unter die Plane wehte. Dengler hatte Schmerzen am ganzen Körper. Seine Augen tränten. Immer wieder sah man Polizeistiefel kommen, gehen, sich nähern, sich entfernen. Die Jugendlichen unter der Plane hielten stand. Wieder näherte sich eine Polizeikette.
»Wir sind friedlich! Was seid ihr?«
Ein schwarzer Handschuh fasste unter die Plane. Er fand das Gesicht des blonden Mädchens, ein Finger griff ihr zwischen Oberlippe und Zähne. Der Polizist zog, die Lippe des Mädchens bog sich nach oben, gab das Zahnfleisch frei. Das Mädchen schrie. Jakob warf sich nach vorne, wollte sich auf den immer noch unsichtbaren Polizisten stürzen. Dengler hielt ihn mit dem Oberkörper davon ab. Mit seiner Rechten griff er den Finger des Polizisten, zog ihn von dem weinenden Mädchen weg und brach ihn.
Er hörte den Schmerzensschrei des Mannes außerhalb der Plane. Dann nahm er mit der rechten Hand das Mädchen und mit der linken seinen Sohn und zog sie auf der anderen Seite unter der Plane hervor. Schnell ins Getümmel, schnell unter die vielen Tausende.
Nach einer Weile blieben sie stehen.
»Ich hab was gerettet«, sagte Jakob und gab dem Mädchen ihren blauen Anorak. »Soll ich dich nach Hause bringen?«
***
Dengler ging allein nach Hause. Er war nass bis auf die Haut.
Auf dem Marktplatz sah er den Stuttgarter Mob.
Zwei- oder dreihundert Leute, darunter einige, die sich für die bessere Gesellschaft
Weitere Kostenlose Bücher