Die letzte Flucht
Intensität, ein Schmerz, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. Es war, als hätte ihr jemand ein Messer ins Gedärm gestoßen. Finn Kommareck schrie auf und griff nach der Hand von Maria Marksteiner, die neben ihr stand. Späterwürde Maria ihr sagen, dass noch nie in ihrem Leben jemand ihre Hand so fest gequetscht habe wie Finn an diesem Tag.
Es dauerte drei, vielleicht vier ewigwährende Sekunden, bis der Schmerz abklang und sie wieder klar denken konnte.
Schöttle war erschrocken aufgesprungen, Maria hielt fest ihre Hand, Peter drückte sich erschrocken die Faust vor den Mund. Niemand von ihnen hatte jemals Finn Kommareck in solch einer hilflosen Situation erlebt.
Finn löste ihre Hand aus der Marias und stand auf.
»Wir … wir müssen neu denken«, sagte sie mühsam. »Wir müssen diesen Fall völlig neu überdenken.«
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45. Schwarzer Donnerstag (1)
Dengler verließ seine Stuttgarter Wohnung um halb zehn Uhr am Morgen. Die Rollläden des Basta waren zu, das gesamte Viertel schlummerte noch. Der Antiquitätenhändler schloss gerade erst die Tür zu seinem Laden auf. Nur wenige Passanten waren zu sehen.
Es würde ein schöner Tag werden, dieser 30. September. Am Morgen hatte er bereits mit Dr. Lehmann telefoniert. Man war sich schnell einig, dass mit dem Tod von Bernhard Voss Denglers Auftrag erledigt sei.
»Schicken Sie mir Ihre Rechnung«, hatte der Anwalt gesagt.
Dengler verschwieg, dass er die Leiche von Voss gefunden und die Polizei benachrichtigt hatte. Warum auch? Würde es etwas ändern? An nichts würde es etwas ändern.
Er trank einen doppelten Espresso im Café Königx . Er konnte das Bild des Toten nicht vergessen. Das dunkle, noch nasse Blut glänzte. Es reflektierte schwach das Licht der Neonröhren in dem Kellergang. Zwei Wunden. Zwei Schläge. Träge ausgetretenes Blut. Nachdenklich rührte er in dem Kaffee. Dann zahlte er.
Am Kiosk in der Esslinger Straße blieb er vor dem Zeitungsständer stehen. »Kindesmörder erschlagen! Hat tödlicher Rächer zugeschlagen?«, lautete die Schlagzeile der Bild – Zeitung. Seriösere Zeitungen brachten eine kurze Meldung. Immerhin auch auf der ersten Seite.
Er hatte nichts mehr damit zu tun. Dengler sah auf die Uhr. Er musste sich beeilen. Er ging zügig über den kleinen Schlossplatz zur Lautenschlagerstraße.
Er war überrascht, wie viele Schüler sich dort versammelt hatten, sein erfahrener Polizistenblick sagte ihm, dass es ungefähr zweitausend Jugendliche sein mussten. Quer zur Straße stand ein weißer Miet-Lkw, auf dessen offener LadeflächeLautsprecher montiert waren. »Bildung statt Prestigebahnhof« stand auf einem Transparent, »Baustopp sofort« und »Jugendoffensive gegen Stuttgart 21« auf anderen. Dengler ging den Bürgersteig entlang bis hinunter zum Bahnhof. Sein Blick schweifte über die Köpfe hinweg. Jakob war nirgends zu sehen. Mehrmals ging er an den Teilnehmern der Kundgebung entlang, wechselte die Straßenseite.
Vielleicht ist er ja gar nicht hier.
Gerade verkündete ein junger Bursche, die Menge solle direkt in den Park ziehen, auf den Demonstrationszug durch die Stadt würde man verzichten. Es gäbe Informationen, die Bahn wolle heute die jahrhundertealten Bäume im Park fällen, um Platz für eine Baugrube zu schaffen. Da die Abschlusskundgebung sowieso dort angemeldet sei, könne man damit rechnen, dass die Änderung der Route im gesetzlichen Rahmen stattfinde.
Die Schüler bewegten sich gruppenweise am Bahnhof vorbei und strömten in den Park. Dengler lief zwischen ihnen; er fühlte sich unwohl unter all den siebzehn- oder achtzehnjährigen jungen Leuten.
»Was machst du denn hier?«
Jakob stand neben ihm.
»Mir wär’s lieber, du wärst nicht hier«, sagte Dengler. »Irgendjemand hat gesagt, dass Polizei zu erwarten wäre.«
»Hey, die wollen die Bäume fällen. Den Park zerstören. Nur damit ein paar Konzerne Milliarden einsacken.«
»Jakob, die bauen dafür einen neuen Bahnhof.«
»Einen neuen Bahnhof? Sag mal, was soll das denn? Jetzt komm mir noch mit den paar Minuten, die man dann schneller in Ulm ist.«
»Na ja, das ist doch ein Argument.«
»Hey, du hast keine Ahnung, oder?«
»Jakob, ich bin immerhin dein Vater.«
»Lieber Vater, weißt du zum Beispiel, wie viele Gleise dein neuer Bahnhof haben wird?«
»Nein, damit habe ich mich wirklich nicht beschäftigt«, sagte Dengler genervt.
»Acht Gleise. Bisher haben wir sechzehn. Acht Gleise statt sechzehn, das kostet lässige 4,5 Milliarden
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