Die letzte Flucht
Handzählgeräten und aufmerksamen Gesichtern die Demonstranten.
Dengler suchte Jakob.
Er sah ihn am Eingang vor dem Kunstmuseum stehen. Aber als er sich durch die Menschenmenge durchgewühlt hatte, war sein Sohn nicht mehr dort.
Vielleicht ist er in den obersten Stock gefahren, dort hat man einen guten Überblick über den Platz.
Dengler fuhr mit dem Aufzug in das Restaurant im obersten Stock des modernen Glaskubus.
Der überfüllte Schlossplatz war von oben gut zu sehen. Direkt vor der großen Panoramascheibe standen vier Polizisten und schauten auf die Demonstration hinunter.
Dengler widerstand dem spontanen Impuls, die Kollegen zu begrüßen.
Die ehemaligen Kollegen, rief er sich ins Gedächtnis.
Die Polizisten diskutierten miteinander. Dengler stand neben ihnen und schaute hinunter. Vielleicht entdeckte er Jakob.
»Von der ersten Säule bis zum vierten Baum in der ersten Reihe, das müssten doch hundert Meter sein«, sagte der Polizist, der genau vor der Scheibe stand und nach unten starrte.
»Das kommt hin«, sagte sein Kollege.
»Und bis zur letzten Baumreihe vor dem Kiesweg, das sind doch zweihundert Meter, oder?«
»Kann sein«, gab sein Kollege zu.
»Also dann stehen auf diesem Quadrat zweitausend Demonstranten«, sagte der Polizist und schrieb etwas in einen Notizblock.
»Was schätzt du, Horst, wie viele solcher Quadrate sind von Demonstranten gefüllt?«
»Schwer zu sagen. Also ich sag mal: zehn.«
»Eher fünfzehn«, sagte der Polizist, der bisher geschwiegen hatte.
Er hatte kurze rote Haare und sah aus wie ein Ire.
»Ok. Dann halten wir fest. 12,5 mal 2000 – das sind also heute 25 000 Demonstranten.«
»Das sieht aber irgendwie nach verdammt viel mehr aus.«
»Das ist sowieso alles Scheiße, was wir hier machen«, sagte der rothaarige Polizist.
»Wieso?«
»Also, ich hab gehört, der Polizeipräsident fragt jedes Mal im Innenministerium an, wie viele Demonstranten er der Presse melden soll.«
»Und die halbieren dann die Zahl, die die Veranstalter gezählt haben.«
»Und wozu machen wir uns dann hier die Arbeit?«
»Keine Ahnung.«
»Mappus weg!« Die Rufe der Demonstranten waren hier oben gut zu hören. »Lügenpack, Lügenpack.«
***
Am Abend saßen Dengler, Olga und Martin Klein in dessen Wohnzimmer und sahen das Heute-Journal an. Marietta Slomka interviewte den Ministerpräsidenten.
»Deshalb war es auch immer unser Anliegen, den Dialog zu suchen« , sagte Mappus.
Dengler dachte an die Gesichter der Kids. An ihre von Pfefferspray getroffenen Augen. Er dachte an den Mann, demdie Schützen des Wasserwerfers das Augenlicht zerstört hatten.
»Er lügt«, sagte Dengler.
»Es ist unbestritten, dass Flaschen geflogen sind.«
»Er lügt dreist. Die Tausende, die dabei waren, kennen die Wahrheit. Er belügt die Millionen vor den Fernsehern«, sagte Klein.
»Die Polizei hat reagiert, nicht agiert.«
Dengler verstand nun, warum die Stuttgarter »Lügenpack« riefen.
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53. Dengler und Kommareck
Am nächsten Tag flog Dengler mit einer frühen Maschine nach Berlin. Auf dem Flug las er den Artikel im Stern . »Wir können alles – außer Bahnhof«, hatte Arno Luik den Artikel überschrieben.
Ein Mann um die vierzig im Anzug saß neben ihm, ein Geschäftsreisender offensichtlich.
»Ich war eigentlich immer für den Bahnhof«, sagte er. »Aber seit dem Polizeieinsatz bin ich strikt dagegen. Wer solche Mittel einsetzt, kann auch in der Sache nicht recht haben.«
Dengler reichte ihm den Stern .
***
Pünktlich um elf Uhr öffnete sich die Tür zum Vernehmungsraum, und Finn Kommareck setzte sich ihm gegenüber.
Sie sieht blass aus, dachte Dengler.
Er konnte sich gut vorstellen, dass sie unter großem Ermittlungsdruck stand. Zwei zusammenhängende Morde, einer davon unter den Augen der Polizei, große Öffentlichkeit und immer noch keine Festnahme.
»Wir suchen diese Mappen«, sagte Kommareck.
Sie legte drei verschiedenfarbige Mappen auf den Tisch, eine rote, eine grüne, eine braune.
»Wie sahen die Mappen aus, die Sie bei Voss gesehen haben?«
»Rot«, sagte Dengler und zeigte auf die rote Mappe.
»Erinnern Sie sich an eine Beschriftung?«
»Nein.«
»Hatten Sie Gelegenheit, sich den Inhalt anzuschauen?«
»Nein.«
»Voss hatte zwei davon in der Hand, als Sie ihn am Aufzug sahen?«
»Ja.«
»Und als Sie ihn im Keller sahen, trug er sie nicht mehr bei sich?«
»So ist es.«
»Er könnte sie also im Keller versteckt haben.«
»Das nehme ich
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