Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
vierzig Jahren mit kantigem Gesicht und energischem Kinn. Ein paar Kilometer zuvor hatte sie ihre Schirmmütze abgenommen, unter der kurz geschnittenes graues Haar zum Vorschein kam. »Wir haben noch Glück«, sagte sie, während sie der leisen Stimme aus ihrem Funkgerät lauschte. »Die North Circular räumen sie mit Bulldozern, damit die Einsatzfahrzeuge durchkommen. Was für ein Schlamassel. Hoffentlich sind die alle versichert.«
Die letzten Fahrzeuge des Konvois, zwei Polizeimotorräder, donnerten vorbei.
»So, das wär’s«, sagte die Fahrerin, drehte das Lenkrad, gab Gas und fuhr auf die von der Polizei geräumte Spur. Sie gehörte zu den Ersten, die reagierten, und konnte so an Mauern stehender Wagen vorbeibrausen.
Ein paar Minuten lang kamen sie gut voran, bevor der Verkehr die leere Straße wieder in Besitz nahm. Sie überholten Personenwagen und gelbe Busse voller evakuierter Schulkinder sowie Rettungswagen, die aus den sich leerenden Krankenhäusern kamen, rasten über die Tower-Bridge-Approach-Kreuzung und passierten dann, die brütende Masse des Towers zur Linken, die große U-Bahn-Station mit dem freien Platz davor. Helen sah Tausende von Menschen aus den unterirdischen Schalterhallen strömen. Sie wirkten schockiert,
und viele waren schon bis auf die Haut durchnässt, bevor sie überhaupt in den Regen hinaustraten. Offenbar war also auch das U-Bahn-Netz von der Überschwemmung betroffen. Wenn ja, dann fragte sie sich, wo all diese Tausende, die sich in das Herz der Stadt ergossen, bleiben sollten.
Sie fuhren ein Stück weiter, die Byward Street und die Lower Thames Street entlang. Der Verkehr wurde immer langsamer und dichter. Überall waren Baustellen, riesige, in den Straßenbelag gegrabene Löcher; London wurde permanent umgebaut, und jetzt waren die Löcher und Gräben randvoll mit Wasser. Helen erhaschte einen Blick auf den angeschwollenen, reißenden Fluss selbst, der so zähflüssig wirkte, als bestünde er aus geschmolzenem Metall, aus Quecksilber vielleicht, aber keineswegs aus bloßem Wasser, ein mächtiger Strom, der sich unter den Betonbogen der London Bridge hindurchzwängte.
Der Verkehr gerann noch mehr, als die Fahrerin den Wagen um die Zufahrten zur London Bridge herummanövrierte. Zu ihrer Rechten sah Helen die spindeldürren neuen Wolkenkratzer der City, außergewöhnliche Glasskulpturen, die während ihrer Geiselhaft errichtet worden waren. Hubschrauber schwebten an ihren gleichmütigen Stirnseiten vorbei. Sie ließen U-Bahn-Station Cannon Street und Southwark Bridge hinter sich. Doch dann verließ sie das Glück - die Straße vor ihnen schloss sich wie eine verkalkte Arterie. Noch schlimmer, sie sahen Fußgänger, die vom Südufer her über die schmale Millennium Bridge strömten und die Straßen noch mehr verstopften.
Die Fahrerin zuckte mit den Achseln. »Ich schätze, das war’s. Tut mir leid. Soll ich umkehren? Am schlimmsten
wird’s vor uns im Westend sein. Wir könnten nach Norden fahren und …«
»Nein. Ich muss nach Whitehall. Oder zum Battle-of-Britain-Denkmal am Embankment. Dort habe ich mich mit meinem Kontaktmann verabredet, falls ich nicht nach Whitehall durchkomme.«
Die Fahrerin sah sie an, in ihren Zügen lag Mitgefühl. »Whitehall? Hören Sie, es steht mir nicht zu, Ihnen Ratschläge zu erteilen … Aber Sie sind doch die Frau, die was über ihr Kind rauszufinden versucht, stimmt’s?«
»Das ist meine Sache«, fuhr Helen sie an.
Die Fahrerin ließ sich nicht beirren. »Es ist halt so, dass Whitehall direkt am Fluss liegt. Wenn’s irgendwo eine Überschwemmung gibt, dann da.« Sie zeigte auf einen Navi-Bildschirm, der ein bisschen moderner war als die Geräte, an die Helen sich erinnerte. Flimmernde, hochauflösende Ausschnitte des Stadtplans waren zu sehen, Westminster und das Westend, ganze Areale, die von einem grauen Film überzogen waren. »Mr. Lammockson hat uns in Hochwasser-Szenarien trainiert. Wahrscheinlich evakuieren sie gerade die Regierungsgebäude, wenn sie’s nicht schon getan haben.«
»Ich habe keine Wahl«, sagte Helen unglücklich.
»Sind Sie sicher? Ich kann Sie immer noch von hier wegbringen, wissen Sie.«
»Ja, ich weiß. Danke. Aber ich muss das tun, wenn ich meine Tochter zurückbekommen will … Und was haben Sie jetzt vor?«
»Zerbrechen Sie sich meinetwegen mal nicht den Kopf.«
»Haben Sie Familie?«
Die Fahrerin wandte sich ab. »Zwei Jungs. Ihr Dad ist vor
fünf Jahren mit ihnen abgehauen, zurück nach
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