Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
namens HeadSpace war nicht näher definiert, aber Maria hatte ihn vage nach der sorrentinischen Küste modelliert, wo sie als Kind mit ihrer eigenen Familie glückliche Ferien verbracht hatte. Natürlich war das Meer jetzt etwas Abscheuliches, und Maria hatte Jalousien vor den großen Panoramafenstern angebracht, um seinen Anblick auszusperren. Aber sie fand es trotzdem schön, das kleine Mädchen in dem sonnenbeschienenen Innenhof auf dem Bildschirm des Desktopcomputers in ihrer feuchten, abgedunkelten Wohnung spielen zu sehen.
Linda war Marias Baby, ein rein virtuelles Kind, schmerzlos geboren und aufgewachsen innerhalb der leuchtenden HeadSpace-Domain. Alles, was Linda wusste, hatte Maria ihr beigebracht. Maria besaß Handschuhe und ein Headset, und sie konnte das Kind lachen hören, konnte es spüren, wenn ihr Avatar es umarmte, eine geisterhafte Präsenz unter den Pads an ihren Fingerspitzen. Dennoch konnte sie nicht bei dem Kind sein, nicht ganz. Ihr Bildschirm war eine Barriere zwischen HeadSpace und der wirklichen Welt - der Trübwelt, wie Maria sie innerlich nannte, diese feuchte, im Zusammenbruch begriffene Welt, in der sie gefangen war, eine farblose, kinderlose, siebenunddreißigjährige Frau.
Aber diese Barriere würde sich in nicht allzu ferner Zukunft auflösen. Das hatten die »Transhumanisten« versprochen. Technologien, wie die Künstliche Intelligenz, die Gentechnik und die Nanotechnologie, würden die menschliche Evolution beschleunigen, würden Maria selbst zum Produkt einer Vereinigung von Fleisch und Technologie emporheben. Und jenseits davon käme die Singularität, der Punkt, an dem menschliche Technologien klüger würden als die Menschen. Dann würde eine exponentielle Entwicklung hin zu einer glitzernden, jeglicher Kontrolle entzogenen Transzendenz stattfinden, und ein neues Reich eines verbesserten Daseins würde sich auftun. Sie hatte jahrelang davon gelesen, ihr halbes Leben lang. Wenn die Singularität kam, würde sie ewig leben können - wenn sie es wollte. Und sie würde übergangslos zwischen einer Welt und der anderen wechseln können, zwischen der trüben Welt von Manchester und dem leuchtenden Reich von Head Space.
Sie könnte bei ihrem Kind sein, im Licht, so real wie Linda selbst.
Doch die Singularität ließ sich Zeit.
Maria hörte jetzt nur noch selten von ihren transhumanistischen Kontaktleuten. Während das Wasser immer größere Teile der Stadt verschlang, kam es zu Stromausfällen oder, noch schlimmer, zu Ausfällen bei den Providern, die sie mit Linda im HeadSpace verbanden. Und auch Maria selbst konnte nicht mehr so viel Zeit wie bisher mit ihrem Kind verbringen. Permanent hungrig, durstig und frierend, stand sie stundenlang Schlange nach Lebensmitteln, Arzneien und sogar Trinkwasser.
Tatsächlich war ihr Zugang zum HeadSpace das Produkt einer komplexen und ineinander verwobenen Gesellschaft, der Schlussstein einer Pyramide, die auf einem Fundament sehr alter Technologien ruhte, auf Ackerbau und Viehzucht, Bergbau, Warenproduktion, Transport und Energieerzeugung. Erst als diese unentbehrliche Pyramide zerbröckelte, wurde sich Maria ihrer Existenz in vollem Umfang bewusst. Die Singularität schien ihr mehr und mehr außer Reichweite zu geraten - ja sogar eine Absurdität zu sein. Den Schlussstein gab es nicht ohne die Pyramide, die ihn trug.
An einem Sonntagmorgen stürzte die HeadSpace-Website schließlich ab. Maria versuchte den ganzen Tag, Zugang zu ihr zu bekommen, immer wieder, bis in die Nacht hinein. Vierundzwanzig Stunden lang weigerte sie sich zu akzeptieren, dass die Site endgültig verschwunden war - bis ihre eigene Internetverbindung zusammenbrach.
Dann fiel der Strom aus. Sie saß in ihrer dunklen, immer kälter werdenden Wohnung, die offene Hand am toten Bildschirm,
und sehnte sich danach, die Trübwelt durch ihn verlassen und sich im gepixelten Sonnenschein zu Linda gesellen zu können.
Dann begann sie zu trauern.
37
MAI 2019
»Ihr müsst weg aus Postbridge, Amanda. Du und die Kinder. Sofort.«
Amanda starrte ihre Schwester an. Lily stand in der Tür des Wohnwagens, den Rucksack zu ihren Füßen. Sie trug einen abgewetzten blauen Overall mit aufgenähten AxysCorp-Logos. Lily war tief gebräunt, das ergrauende Haar kurz geschoren. Sie wirkte schlank und fit, sah aber angespannt aus.
Wayne saß am Tisch des Wohnwagens und bearbeitete ein Stück Leder, das für ein Geschirr gedacht war. Mit seinen einunddreißig Jahren war er jünger als die
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