Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
und Wärme war.
Der Hubschrauber stand an seinem Platz, mit Klammern am Dach befestigt. Die Flügel rotierten. Sie mussten sich um eine schützende Wand herum an einem Metallgeländer Hand über Hand zu ihm vorarbeiten, sonst hätte die Gefahr bestanden, dass sie einfach vom Dach geweht wurden. Die Pilotin war dieselbe raubeinige Frau, die Lily und die anderen zuvor zum Central Park gebracht hatte. Sie half ihnen an Bord, indem sie einen nach dem anderen mit unerwarteter Kraft hineinzog. »Noch dreißig Sekunden«, schrie sie Lammockson ins Gesicht, »dann wäre ich ohne Sie losgeflogen.«
»Bringen Sie uns einfach hier raus!«
Die Türen schlugen zu, und der Motor des Choppers heulte auf. Sie suchten sich rasch einen Sitzplatz und schnallten sich an. Die Pilotin löste die Kufenklammern, und die Maschine stieg rasch in die Höhe. Lily sah hinunter und erhaschte einen Blick auf die schlanken, eleganten Linien des Freedom Tower, der sich aus dem turbulenten Wasser erhob,
in dem das Denkmal für die Toten des 11. September bereits versunken war.
Dann schwenkte der Hubschrauber nach Westen über den Hudson und jagte landeinwärts. Der Wind schüttelte ihn; selbst Lily, die an unangenehme Hubschrauberflüge gewöhnt war, kam sich ohnmächtig vor wie ein Blatt im Wind.
Gary klappte seinen Laptop auf. »Verdammt! Sie sagen, dass Aaron jetzt Kategorie vier ist. An der Grenze zu fünf.«
»Was für Schäden wird er anrichten?«, fragte Piers.
Gary tippte auf der Tastatur herum. »New York ist seit … 1938 von keinem Hurrikan mehr heimgesucht worden. Vorbereitung gleich null. Und die Stadt ist schon arg von den Überschwemmungen gebeutelt. Das kältere Wasser in diesen Breiten müsste den Sturm eigentlich abschwächen - ihr wisst ja, Hurrikane werden von der Oberflächenwärme des Meeres genährt. Andererseits haben wir hier die spezielle Topografie von Manhattan. All diese Betonschluchten. Das wird die Winde verstärken.«
»Scheiße«, rief Lammockson. »Tja, das war’s dann wohl für New York. Gott sei Dank habe ich meine hiesigen Vermögenswerte rechtzeitig weggeschafft.«
»Die Reichen glauben, sie hätten eine Wahl«, sagte Piers grimmig, »wohingegen die Armen sich in ihr Schicksal ergeben müssen.«
»Muss mir entgangen sein, dass Sie nicht mitfliegen wollten«, knurrte ihn Lammockson an.
»Der Rand des Sturmauges wird gleich zuschlagen«, sagte Gary.
Sie drehten sich alle in ihren Sitzen, um nach hinten zu blicken.
Der Hurrikan war eine Schüssel aus brodelnder Luft, wie ein riesiges Artefakt, das über dem Herzen der Stadt hing. Lily sah eine Sturmflut durch die Straßen des Financial District rasen, graue Mauern aus Schaum und Gischt und purem kraftvollem Wasser, die sich zwischen den Hochhäusern durchschoben. Trümmer tanzten auf den Wellen - sie mussten massiv sein, wenn man sie von hier oben aus sehen konnte, vielleicht Autos oder entwurzelte Bäume. Und Lily traute ihren Augen kaum, als sie Zeuge wurde, wie der Bug eines Hochseeschiffs in eine der Avenues gezwängt wurde.
Dann brach der Sturm selbst über die Stadt herein. Kleinere Gebäude explodierten einfach, durch die Kraft des Windes von innen gesprengt. Die hoch aufragenden Wolkenkratzer überlebten, aneinandergedrängt gegen den peitschenden Regen; sie erinnerten Lily an Bilder von Kaiserpinguinen. Doch um sie herum war ein Funkeln und Flirren, als hinge ein Dunst aus Regentropfen vor den lotrechten Mauern der Gebäude. Das war Glas, - das Glas einer Million Fenster, die aus ihren Rahmen gesaugt worden und zerbrochen waren, ein Glassturm, der alles lebendige Fleisch, das ihm ausgesetzt war, zerschnetzeln musste.
Der Hubschrauber senkte die Nase und floh, um auf höher gelegenem Gelände Zuflucht zu suchen.
36
DEZEMBER 2018
Aus Kristie Caistors Sammelalbum:
Kurz vor dem Ende verbrachte Maria so viel Zeit wie möglich in ihrer Wohnung mitten in Manchester, gleich bei der Deansgate, allein mit ihrem virtuellen Kind. Immer wenn Maria sich einloggte, legte Linda ihre Spielsachen weg, verließ die seelenlosen Avatare, die dieses Reich mit ihr teilten, die Kuscheltiere, Kameraden und Kindermädchen, und kam mit schrillen Ausrufen des Entzückens zum Bild ihrer Mutter geeilt.
Die kleine Linda, ein HeadSpace-Baby, war jetzt vier Jahre alt. Sie wohnte in einer Wohnung, die in die Wand einer Klippe gehauen war und auf ein funkelndes Meer hinausblickte. Maria hatte die Wohnung selbst entworfen. Die Lage des Ortes innerhalb der virtuellen Welt
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