Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
Gebräu aus Brennnesseln machen …«
»Wie wär’s mit einem Spaziergang?«, fragte Lily und verengte die Augen.
Wayne blickte auf. »Also, ich hab keine besonders feinen Antennen, Schätzchen. Wenn du ein Problem mit mir hast, dann nur raus damit.«
»Ich habe dir nichts zu sagen.«
In Lilys Stimme lag keine Verachtung, aber Amanda wusste, dass eine weitere solche Bemerkung Wayne wahrscheinlich in Rage bringen würde; er mochte es nicht, wenn man ihm keine Beachtung schenkte. Sie schnappte sich ihre Jacke von einem Haken hinter der Tür und schlüpfte in ihre Stiefel. »Wir gehen«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich zeige dir alles …«
Lily hob ihren Rucksack auf und schlang ihn sich über die Schultern - als hätte sie nicht die Absicht, hierher zurückzukehren.
Schweigend gingen sie durch Postbridge. Amanda spürte, dass sie beide Zeit brauchten, um die von der Szene im Wohnwagen ausgelöste Spannung abzubauen.
Postbridge war ein hübsches kleines Dorf mitten in Dartmoor, nicht viel mehr als ein paar vereinzelte Bauernhöfe, ein Wirtshaus und eine Kapelle. Über den East Dart River führte eine Steinbrücke, eine mittelalterliche Konstruktion, die sich Clapper Bridge nannte, wie Amanda gelernt hatte. Die Sonne stand tief. Es war ein heller Frühlingstag. Dies war eine typisch englische Postkartenszenerie, wenn auch mit modernen Elementen wie Telefon- und Strommasten und einem Mobilfunkmast.
Man merkte überhaupt nicht, dass sich etwas verändert hatte, dachte Amanda plötzlich. Sie waren hier weit von der Küste entfernt. Man merkte nicht, dass eine gewaltige Flut die ganze Welt aus dem Lot gebracht und Großbritannien in über dreißig Meter tiefem Wasser hatte versinken lassen, so dass Südengland sich in einen Archipel verwandelt hatte. Was war anders? Vielleicht Kinder, die an einem Schultag draußen spielten oder sogar auf dem Feld arbeiteten, wie ihre beiden; die Dorfschule meldete, dass nur fünfzig Prozent der Schüler am Unterricht teilnahmen. Dann das Fehlen jeglichen Verkehrs, obwohl sie das kehlige Brummen von Landwirtschaftsfahrzeugen auf den Feldern hörte. Keine Zeitungen in dem kleinen Postamt; das Daily Mail -Bord war leer, kahl und verwittert. Die englischen Fahnen, die auf jedem
Dach und vor jedem Fenster flatterten, sogar an den Antennen der stehenden Wagen; das allgegenwärtige Georgskreuz. Und natürlich die Wärme, diese ganz und gar nicht der Jahreszeit entsprechende Wärme, die den Winter hindurch angehalten und die murrenden Bauern dazu gebracht hatte, ihre Felder früher als gewohnt zu bestellen. Aber Postbridge war plötzlich ein attraktiver Ort geworden, wie man an den Wohnwagen, Mobilheimen und Zelten erkennen konnte, die sich um den alten Kern des Dorfes drängten, darunter auch Amandas Wohnwagen, denn es lag mehr als dreihundert Meter über dem früheren Meeresspiegel. Sie befanden sich hier im Herzen von Dartmoor, dem höchstgelegenen Gebiet in Südengland.
Sie sah an sich selbst hinab: abgewetzte Steppjacke, abgetragene Jeans, schwere Wanderstiefel. Sie sah aus wie eine Bäuerin - und das war sie ja praktisch auch, obwohl sie und Wayne nicht geheiratet hatten. Die Amanda von 2015 hätte die von 2019 nicht wiedererkannt.
Lily blickte sich neugierig im Dorf um. »In den Staaten sieht man überall die Fahne, das Sternenbanner, und gelbe Bänder an den Bäumen, für die Opfer der Flut. Aber ich kann mich nicht erinnern, in England jemals so viele Fahnen gesehen zu haben. Außer in der Zeit vor der Absage der Fußballweltmeisterschaft.«
Das entlockte Amanda ein Lächeln. »Sie spielen tatsächlich immer noch Fußball, viele der großen Stadien im Norden sind offen geblieben. Eine verkleinerte Liga, je nachdem, wer zu den Spielen kommen kann. Wayne verfolgt sie im Radio. Bradford City steht an der Tabellenspitze, stell dir das vor. Zumindest haben sie’s aufgegeben, große Spiele im Ausland
zu veranstalten. Ist aber schade um die Weltmeisterschaft …«
Die Schwestern verließen das Dorf und folgten einem Fußweg nach Süden. Sie kamen nicht weit, dann stießen sie auf die Stacheldrahtumzäunung des Dorfes. Eine primitive Schranke aus einem umgelegten Telefonmast versperrte den Weg. Heute hielt hier Bill Pulford Wache, der Sohn eines ortsansässigen Bauern. Er nickte Amanda zu und ließ sie durch.
Amanda bemühte sich, das Eis zu brechen. »Wir sind nicht weit vom Bellever Tor.« Die Tors, massive Granithügel, die aus dem Torfmoor ragten, waren in den Zeiten,
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