Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
beiden Frauen. Amanda bemerkte, wie er Lilys Körper taxierte, ihre vom Overall abgeflachten und verborgenen Kurven. So verhielt er sich bei jeder Frau, der er begegnete, selbst bei denen in seiner unmittelbaren Umgebung - unangenehmerweise auch bei der vierzehnjährigen Kristie. Es war eine Gewohnheit, die Amanda zu ignorieren gelernt hatte.
Lily ignorierte ihn ebenfalls. Ihr Blick blieb auf Amandas Gesicht gerichtet.
»Wie lange ist es her, dass wir uns zum letzten Mal gesehen haben?«, fragte Amanda. »Über ein Jahr … Wo hast du noch gleich gearbeitet?«
»In Peru. Bei einem großen AxysCorp-Projekt.«
»Peru? Südamerika? Ich dachte, Nathan wollte sich auf Island verkriechen.«
»Planänderung.«
»Aber Peru, du liebe Zeit! Na ja, dir tut’s offenbar gut.«
»Ihr müsst weg von hier«, wiederholte Lily.
»Warum?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Kommt mit mir nach London. Von dort werden wir außer Landes gebracht. Ich habe ein Auto. Es ist an den Straßensperren angehalten worden, so dass ich laufen musste, aber es wird uns in Cheriton Bishop abholen.« Das war eine Ortschaft an der A30, der Fernverkehrsstraße, die von Dartmoor nach Osten führte.
»London ist abgesoffen«, sagte Wayne spöttisch zu Lily. Sein Londoner Akzent war nicht zu überhören.
Lily ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »In Marlow wartet ein Boot. Und weiter stromabwärts dann ein Helikopter.«
»Warum kann der Helikopter nicht einfach hierherkommen?«, fragte Amanda.
»Zu gefährlich.«
Amanda wusste, was sie meinte. Hier oben waren die Leute alle ein bisschen provinziell und den Londonern und den Leuten aus Birmingham, die noch immer aus ihren überschwemmten Vororten über Salisbury Plain oder die Cotswolds herbeigeströmt kamen, feindlich gesonnen. Die Straßensperren waren das eine, aber Gerüchten zufolge hatte jemand einen Polizeihubschrauber mit einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen wie so ein Terrorist in Beirut.
»AxysCorp meint …«, begann Lily.
»AxysCorp hier, AxysCorp da«, fiel Wayne ihr ins Wort.
»Großkonzerne. Reisen durchs Land. Ihr seid wie ein Überbleibsel aus der Vergangenheit, aus dem letzten Jahrhundert. Ihr spielt keine Rolle mehr.«
»Sie ist meine Schwester«, sagte Amanda in ruhigem Ton, bemüht, ihn nicht zu provozieren. »Und sie hat den weiten Weg hierher zurückgelegt, um mit mir zu reden. Ich sollte ihr wenigstens zuhören …«
»Blödsinn!« Wayne warf die Lederstücke auf den Tisch, steckte sein Messer in den Gürtel und stand auf. Er war ein richtiger Hüne, muskulös und gebräunt von der Arbeit im Freien, obwohl er das »Londoner Fett«, wie er es nannte, selbst nach acht oder neun Monaten hier oben auf Dartmoor immer noch nicht ganz losgeworden war. Man hätte ihn als gut aussehend bezeichnen können, dachte Amanda, die ihn mit Lilys Augen betrachtete. Das Beste an ihm waren seine blauen Augen. Aber diese Augen waren kalt, als er auf Lily herabschaute, und seine Miene war ausdruckslos.
»Du gehörst zur Familie«, sagte er zu Lily. »Du kannst für eine Nacht Unterkunft und Verpflegung bekommen. Wenn du länger bleiben willst, musst du arbeiten. Jeder muss arbeiten. So ist das jetzt. Wir haben keinen Platz für Schnorrer.«
»Was ich mit meiner Schwester zu bereden habe, geht nur sie und mich etwas an«, erwiderte Lily gefährlich leise.
Er trat näher heran und schrie auf sie herab: »Wir sind jetzt zusammen, ich und Amanda und die Kinder. Also geht’s auch mich was an, kapiert?«
Lily stand völlig reglos da. Ihm gegenüber wirkte sie noch zierlicher. Sie hatte sich so verändert, dachte Amanda. Ihr war diese typische Reglosigkeit an Lily schon nach ihrer
Rückkehr aus der Gefangenschaft aufgefallen. Außerdem war sie natürlich eine altgediente Angehörige der US Air Force. Amanda zweifelte nicht daran, dass Wayne mit einem gebrochenen Arm auf dem Rücken landen würde, wenn er sie weiterhin bedrohte.
Sie trat zwischen die beiden und nahm Lilys Hand. »Hör mal, wir reden darüber. Das kann ja nicht schaden, oder?«
Wayne schnaubte, den Blick immer noch auf Lily gerichtet. Aber er wich zurück, setzte sich wieder, zog sein Messer und machte sich erneut daran, das Leder zu bearbeiten, mit harten, energischen Bewegungen.
»Komm«, sagte Amanda zu Lily. »Trinken wir eine Tasse Tee.«
»Du hast immer noch Tee?«
»O nein«, erwiderte Amanda trübselig. »Hab den letzten Rest meines Vorrats schon vor Monaten aufgebraucht. Aber man kann ein ganz vernünftiges
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