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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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Mrs Noyes ging hin, küsste es auf die Stirn, hob es auf, hielt es fest, trug es im Geiste den ganzen Berg hinunter und setzte es wieder auf die Weide, von der man es geholt hatte…
    In Wirklichkeit aber schaute Mrs Noyes weg; wie immer ließ sie es nicht zu, dass das Tier ihr in die Augen schaute, aus Angst, es würde denken, sie hätte es verraten. Was auch stimmte – denn sie konnte die Hand nicht ausstrecken, um den Schlag zu verhindern. Sie konnte nicht einmal nein sagen. Also sagte sie gar nichts und sah weg, zum Himmel.
    Noah ließ Ham näher treten und reichte ihm die Messer. Es waren zwei: eins für den Hals – ein zweites für den Bauch. Das Halsmesser war gebogen. Das Bauchmesser war lang, gerade und gezackt.
    Noah fragte: »Du weißt, warum wir das tun?«
    Ham starrte seinen Vater nur an – und hasste ihn. »Ja«, sagte er. »Für Jahwe.«
    »Halte das Lamm so!«, sagte Noah – und zeigte ihm, wie er den Kopf zurückziehen sollte, und dann: »Man führt das Messer so – nicht gerade –, man nutzt den Bogen aus. Der Schnitt muss von Ohr zu Ohr gehen.«
    Ham nahm den Platz seines Vaters ein und hielt das Lamm. Er drückte es sehr fest gegen seinen Brustkorb – den eigenen Körper presste er gegen den Altarstein und gegen das Lamm. Er sprach mit dem Lamm – hielt die Augen dabei geschlossen.
    Noah streckte die Arme aus, wie es der Ritus verlangte, und Hannah hängte das reinweiße Leintuch über seine Handgelenke – die langen bestickten Enden reichten fast bis zum Boden.
    Dann trat Mrs Noyes vor und legte die silberne Schüssel – sie war älter als Noah selbst – in die Hände ihres Gatten.
    Noah hob die Schüssel gen Himmel und begann die lange Rezitation, die mit dem zehnten Namen Gottes endete.
    Jetzt kam auch Japeth mit dem zweiten Gefäß näher, in welches das Herz des Lammes neben Leber, Nieren und Hoden gelegt werden sollte.
    Emma stand gleich hinter ihm mit dem Leichentuch – schon in Nelkenöl getaucht –, worin der geschlachtete Tierkörper eingewickelt und verbrannt werden sollte.
    Sem hob den silbernen Hammer, damit er ihn genau beim Nennen des zehnten Namens Gottes – des Namens, den außer Noah niemand hören durfte – gegen den Stein fallen lassen konnte. Und wenn der Hammer aufschlug – genau dann musste auch Ham zuschlagen.
    Jeder stand und wartete gespannt auf diesen Augenblick: betete und betete nicht – schaute und schaute nicht.
    Der Himmel wurde orange; gelb; weiß.
    Der zehnte Name Gottes berührte die Luft – und der silberne Hammer schlug auf den Stein und übertönte den Namen.
    Im selben Augenblick hob Ham den Arm und stieß einen Schrei aus.
    Mit einer einzigen Bewegung führte er das Messer und hob das Lamm, schon tot, über seinen Kopf.
    Blut strömte auf ihn herab, durch seine Haare und über sein Gesicht und seine Brust. Hannah stockte der Atem, und sogar Noah blieb vor Staunen der Mund offen. Mrs Noyes aber sah erst, als ihr Sohn den baumelnden Kopf des Lammes über das Silbergefäß in den Händen seines Vaters senkte, was er getan hatte.
    Eine leuchtende mondsichelförmige Wunde war seinem Arm entsprungen, dort, wo dieser gegen das Lamm gedrückt hatte – und das Blut, das in Noahs Schüssel floss, stammte ebenso von seinem Sohn wie von dem geschlachteten Tier.
    Mrs Noyes sank auf die Knie.
    Die Tat, die sie selber nicht zu tun gewagt hatte, war getan.
    Am nächsten Morgen litt Mottyl unter läufigkeitsbedingter Ruhelosigkeit. Die Erregung nervte sie, weil sie überhaupt keine Kontrolle darüber hatte – auch nicht über die Folgen. Ihr Kot verbreitete einen satten und alles durchdringenden Geruch, den sie nicht verheimlichen konnte. Ganz gleich, wie tief sie ihn verscharrte, seine Gase erfüllten die Luft. Auch ihre Spuren waren beunruhigend. Immer wieder kam ein bisschen Blut zum Vorschein und dessen Geruch zusammen mit dem intensiven Duft ihres Kots störte sie.
    Ihr fortgeschrittenes Alter machte die Situation nicht besser – auch nicht ihre Blindheit und ihre Angst vor Doktor Noyes. Es war sehr schwer für sie, so alt zu sein und um ihre noch gar nicht gezeugten Kinder bangen zu müssen. Aber es war nichts zu machen. Hier war die Natur am Werk und das musste sie akzeptieren. Dennoch probierte sie gegen ihre Beschwerden mehrere Kräuter aus Mrs Noyes’ Nutzgarten und wanderte bis zur fünfzehnten Lichtung auf der Suche nach Gräsern, die Erbrechen auslösen – doch nichts half.
    Selbst ihre Flüsterstimmen waren in Aufruhr. Meistens sprachen

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