Die letzte Flut
fragte sie. »Kannst du nicht ausnahmsweise mal deinen Hintern heben und jemandem behilflich sein?«
»Murmel – murmel – murmel…« Das war alles, was Mottyl von ihrem Platz unterm Tisch als Antwort hören konnte.
»Und wo ist Emma nur?«, fragte Mrs Noyes. Emmas Pflichten bestanden sowohl in Gemüseputzen als auch in Abspülen. »Vielleicht wird wenigstens sie helfen…«
»Murmel – murmel – murmel…«
»Ach, ihr! Das ganze Pack!«, rief Mrs Noyes. »Niemand hilft mir – und dann ist es meine Schuld, wenn nicht alles rechtzeitig fertig ist!«
Japeth sagte nichts.
Türenschlagen.
Mrs Noyes kam zurück und ging quer durch die Küche zur Speisekammer.
»Emma!«, rief sie, in keine gezielte Richtung. »Emma! Emma!«, rief sie ins Ungefähre.
Mottyl betrachtete die Füße in den Pantoffeln, als sie das innerste Heiligtum der erdgekühlten düsteren Speisekammer erreichten.
»Emma! Kindchen!« Das war Mrs Noyes’ Kosename für das erst elf Jahre alte Mädchen. »Kindchen? …«
Kein Wort, kein Murmeln als Antwort. Wahrscheinlich suchte das Kind seinen Hund, der verschwunden war.
»Na also – sollen sie doch alle Heu essen«, sagte Mrs Noyes. Und Mottyl beobachtete, wie die Füße in den Pantoffeln sich auf die Zehenspitzen stellten, hörte, wie im Regal Steinkrüge gerückt wurden, und sah endlich, wie die Füße sich entspannten. Deckel wurden aufgemacht – etwas wurde eingeschenkt und dann hörte man einen tiefen, langen Seufzer. Bald kehrten die Füße zurück und nahmen ihren Platz unter dem Tisch wieder ein. Mit ihnen kam ein bekannter Geruch, der in der Luft auf den Flügeln des Liedes wehte, das Mrs Noyes zu summen begann. Es war ein schwerer, säuerlicher Geruch – abweisend, wenn es nicht so traurig gewesen wäre. Mrs Noyes ließ sich wieder gehen; das endete am Abend immer mit Tränen.
Mottyl stand auf und ging, mit hängendem Schwanz. Sie lief zum Hof und überquerte den Rasen dahinter auf der Suche nach süßen Gräsern, die hoch genug wären, um sie vor der Sonne zu schützen. Das alltägliche Leben, das – mit Ausnahme von Doktor Noyes und der Ziegen – so einfach, vertraut, ja eine Freude gewesen war, hatte sich jetzt in etwas Kompliziertes, Geheimnisvolles und Schmerzhaftes verkehrt.
Eine Zeit lang lag Mottyl nur da, die Augen weit geöffnet und das Kinn zwischen den Pfoten, und horchte auf die Vögel. Durch die Wolken im blinden Auge konnte sie nur Licht erkennen. Das gute Auge – obwohl auch das schwächer wurde – ließ die ganze Welt herein. Am Himmel stiegen Lerchen und Reisstärlinge auf und ließen sich wieder nach unten fallen – ein Lied kletterte empor, während das andere im Flug abstürzte. Alles war sehr friedlich – sehr idyllisch – sehr ruhig; fast wie ein altmodischer, ganz gewöhnlicher Nachmittag.
Mottyl schlief, auch wenn sie nicht wusste, dass sie schlief. Ihre Augen waren nicht ganz geschlossen und die Eidechsen, die durch das Gras streiften, nahmen in ihren Träumen, die sie anschaute ohne zu wissen, dass es Träume waren, die Größe von Riesen an. Sporadisch zuckten ihre Schultermuskeln, verjagten Fliegen und Vögel, die, so stellte sie sich vor, gekommen waren, um sie fortzutragen. Ihr Schwanz schlug hin und her und ihre Krallen verhakten sich eigenmächtig in der Erde und hielten sie fest, als liefe sie Gefahr abzustürzen. Endlich fiel sie in tiefen Schlaf, und während sie so dalag und lautlos im Schatten träumte, entging ihr, wie das wirkliche Gras sich teilte und wie wirkliche Füße an ihr vorbei in die Dunkelheit des Waldes liefen. Und wie ein langes dünnes Gewand aus Federn an ihr vorbeischleifte.
Jener Nachmittag und jene Nacht gehörten zu den seltsamsten Erfahrungen, die Doktor Noyes und seine Familie – Mottyl, die Katze, mit eingeschlossen – bis dahin in ihrem Leben gemacht hatten.
Zum einen fingen beim Tor Japeths Wölfe im Staub zu heulen an. Das war gegen drei Uhr nachmittags, als die Hitze am schlimmsten war. Die Frauen, auch Emma, liefen aus dem Haus, blieben im Hof stehen und schauten. Die Wölfe, die mit langen Hanfseilen festgebunden waren, konnten nicht in den Schatten ausweichen. Japeth – der, blau und nackt, von seiner Hängematte aufgestanden war – warf einen Blick auf sie und begann zu fluchen. Doktor Noyes verließ seinen Platz im Schutz der Laube und stand jetzt da, den letzten von Jahwes Briefen nass in seinen schwitzenden Händen. Er wurde ganz blass, als er hörte, welche Wörter Japeth beim
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