Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
Vom Netzwerk:
ging um sie herum und sah in Hannahs Gesicht, aus dem die Farbe verschwunden und in dem der Mund fest gespannt war.
    »Erzähl keine Märchen!«, sagte sie. »Irgendetwas stimmt nicht.«
    Hannah befand sich offensichtlich in einem Dilemma. Abgesehen von Emma – mit der man einfach kein ernsthaftes Gespräch führen und keine ernsthafte Angelegenheit diskutieren konnte – hatte sie seit Wochen keine andere Frau gesehen – außer mitten in einer Krise. Sie brauchte – und wollte – dringend jemanden, mit dem sie reden konnte, und vor allem eine Frau; aber sie konnte sich nicht dazu entschließen, sich an eine der Frauen zu wenden. Ihr ganzer Stolz war in ihr Schweigen eingeschlossen: Ihr ganzer Ehrgeiz war in die Entscheidung mit eingebunden, die sie getroffen hatte, nämlich zur rechten Seite der Macht zu sitzen. Von allen Menschen an Bord der Arche – außer vielleicht Doktor Noyes selbst – war Hannah die einzige Mitreisende, die ganz nüchtern über das Überleben nachgedacht hatte; die den ganzen langen Prozess des Am-Leben-Bleiben-Wollens – um welchen Preis auch immer – rationell durchdacht hatte; deren Durchhaltevermögen von einem Augenblick zum nächsten berechnet war. Jetzt war so ein Augenblick.
    Als sie Mrs Noyes ins Gesicht schaute – und darin die fast peinlich unverhohlene Besorgnis ihrer Schwiegermutter sah –, hätte Hannah alle Kontrollen und Hemmnisse, die sie so lange und so sorgfältig aufrechterhalten hatte, am liebsten fallen lassen. Sie hätte gerne zugegeben, dass sie Angst hatte; gern von ihrer Einsamkeit erzählt; gern laut gesagt: Ich habe Schmerzen. Sie hätte gern von dem Kind erzählt, von dem sie fürchtete, es sei in ihrem Leib gestorben. Und vom Blut, das sie verlor.
    Ein Teil dessen, was Hannah gerne gesagt hätte – gegen ihren Willen und sogar ohne dass sie sich dessen bewusst war –, war in ihrem Gesichtsausdruck zu lesen, den Mrs Noyes entziffern konnte, wenn auch nur unvollständig. Sechshundert Jahre Erfahrung im Kindergebären, in Einsamkeit und in Angsthaben waren eine gute Voraussetzung, um die Türen im Gesicht einer anderen Frau zu öffnen. Aber Mrs Noyes konnte nicht mehr als das Ausmaß des Problems erkennen und die Tatsache, dass Hannah nahe daran war, von ihm – was auch immer es war – überwältigt zu werden. Sie konnte den Schmerz ahnen, aber nicht das Blut. Sie konnte die Angst ahnen, aber nicht die Sorge, dass das Kind vielleicht tot war. Sie konnte die Falle ahnen, die Hannah sich selber gestellt hatte – aber sie wusste nicht, wo die Tür war, durch die sie wieder hinauskonnte. All das musste ausgesprochen werden. Und Hannah wollte nicht sprechen.
    »Willst du dich nicht wenigstens einen Augenblick setzen und dir eine Tasse Brühe oder einen Zuckerwürfel bringen lassen?«
    »Nein«, sagte Hannah. »Nein.«
    »Sag mir, was los ist!«, sagte Mrs Noyes. »Um Himmels willen…«
    »Nein«, sagte Hannah. »Nein. Es gibt nichts zu sagen. Ich muss zurück.«
    Und sie kehrte zurück. Und mit ihr das Einhorn.
     
     
    Jetzt saß Mrs Noyes auf dem geheimen Treppchen; das Stroh war beiseite geschoben und Mottyl lag blind im Licht der Lampe und schnurrte.
    Der Käfig des Einhorns darunter war leer und ohne seine Gegenwart wirkte sein Nest erschreckend klein. Das Weibchen war wie immer so weit hinten im Schatten versteckt, dass nur das Horn sichtbar war, und Mrs Noyes konnte nicht umhin, erneut die Frage zu stellen – vielleicht zum hundertneunzigsten Mal: »Warum sprichst du nicht?«
    Und die hundertneunzigste Antwort fiel genauso aus wie die Hannahs. Sie war Schweigen.
     
     
    Ham kam und lehnte sich ans Geländer, starrte in den Schacht. Luci lief mit ihrer Laterne umher, auf der anderen Seite durch den schmalen Gang, blieb bei jedem Käfig stehen und steckte ihre behandschuhten Finger durch das Gitter oder den Draht. Niemand sprach. Wenn eine Uhr dort gewesen wäre, dann wäre ihr lautes Ticken vielleicht auf allen Decks zu hören gewesen – auch bei den weit entfernten Bären und den Elefanten und Nashörnern auf der alleruntersten Ebene. Die unausgesprochene Frage war jedoch allgegenwärtig: Wann wird Emma uns zurückgegeben – und das Einhorn?
    Ganz weit weg, jenseits der Außenseiten der Arche und tief im Stampfen und Rollen des Meeres verborgen, das jetzt zum Ozean anschwoll, sangen die Wale, sammelten sich die Piraten zum nächsten Angriff. Auch Ham musste an die Wale denken – und Mrs Noyes an die Piraten. Ham dachte: Eines Tages werde ich

Weitere Kostenlose Bücher