Die letzte Flut
gerissen worden. Zum Teil war es sein eigenes Blut – und nicht mehr lange und es würde auf dem Tisch verbluten. Aber niemand schenkte ihm die geringste Beachtung – und Noahs Hand wog so schwer, dass dem Einhorn die Luft wegblieb.
Hannah stand auf und ging mit dem dunkelroten Handtuch hinaus.
Sem ließ Emmas Arme los, worauf sie sofort in die dunkelste Ecke des Zimmers rannte, das Gesicht zur Wand drehte und ganz schweigsam und still stehen blieb.
Noah sprach monoton auf Japeth ein – seine Stimme war der reine Klang der Vernunft – und er versuchte seinen Sohn zu beschwichtigen: »Wir haben all deine Probleme gelöst: die Probleme, die du nicht lösen konntest. Sie kann dich jetzt empfangen. Es lag nicht an dir – sondern an ihr. Dies da war notwendig…« Er zeigte auf das Einhorn. »Es war nichts anderes als das, was eine Hebamme gemacht hätte: nichts anderes als das, was der Apotheker ihrer Mutter geraten hätte, wenn diese nur halb so verantwortungsbewusst gewesen wäre wie andere Mütter, die so anständig sind, vorher den Rat eines Apothekers zu suchen. Deine eigene Mutter hätte sich darum kümmern müssen…« Jetzt vollzog Noah die wie stets abenteuerliche und unvorhersehbare Wendung, die ihn von jeglicher Schuldzuweisung befreien sollte; die Wendung, die sogar ihn selbst davon überzeugte, dass er schuldlos sei und – mehr als schuldlos – dass er, nur er, die ganze Situation dadurch rette, indem er alle und jeden vor dem sicheren Ruin bewahre: dieses Rucken, das damit begann, dass sein Arm nach vorne schnellte und sein Finger durch die Luft fuhr, um den wahren, den absoluten Übeltäter ausfindig zu machen: die unvermeidliche Ursache alles Bedrohlichen, alles Gefährlichen; alles Törichten; alles Wahnsinnigen. Dieser Finger der Vernunft, der immer sonst jemanden fand – und zwar meistens seine Frau.
»Gib deiner Mutter die Schuld – aber komm nicht mit gezogenem Schwert auf mich zu! Ich habe nur meine väterliche Pflicht getan. Sonst nichts.«
Langsam ließ Japeth das Schwert sinken und nahm das Messer aus dem Mund und einen Augenblick lang kam es Noah und Sem vor, als würde er sie ohne ein Wort verlassen, denn er drehte sich halb um und machte einen Schritt scheinbar hin zur Tür. Doch plötzlich wandte er sich so schnell wieder um, dass weder Sem noch Noah wirklich sehen konnten, was er tat.
Das Schwert erhob sich im Laternenlicht – und sauste fest, von zwei Händen geführt, auf den Tisch herunter, wo es das Horn des Einhorns vom Kopf trennte.
Für Noah war das eine nur allzu verständliche Reaktion.
Jeder Mann muss Rache nehmen, wie und wann er es für richtig hält. Das Objekt der Rache ist dabei unwichtig. Wichtig ist nur der Racheakt selbst, da er den Mann charakterisiert. Später sollte Japeth zur Überzeugung kommen, dass er als der Arm Gottes gehandelt hatte. Noah würde es ihm so erklären.
Es kam ihnen vor, als hätten sie eine Ewigkeit gewartet – und je länger sie warteten, desto näher rückten sie zusammen.
Mrs Noyes war zu Mottyl gegangen und bei ihr sitzen geblieben – zum Teil, weil sie Angst um sie hatte –, nachdem Hannah mit dem Einhorn verschwunden war.
»Was hast du mit ihm vor?«, fragte Mrs Noyes, als Hannah das Einhorn aus seinem Nest hob. »Es ist sehr empfindlich, weißt du. Es ist krank gewesen.«
»Ich habe nichts mit ihm vor.« (Hannah legte das Einhorn in ihre Armbeuge und zog den Zipfel ihres hellblauen Regentuchs über die Schulter, um das Tier vor dem Sturm zu schützen.) »Doktor Noyes hat nach ihm verlangt.«
»Ach so – jetzt heißt es also wieder ›Doktor Noyes‹? Und was bedeutet dies jetzt – geht es um ein Experiment oder um Ehrerbietung gegenüber Gott? Ist es der Hochwürdige Doktor Noyes, der es will, oder nur einfach der Doktor Noyes?«
Hannah zog die Spitze ihres Tuchs über ihren Kopf und war schon dabei, die Treppe hinaufzugehen.
»Diese Frage kann ich nicht beantworten, Mutter Noyes. Ich weiß nur, dass er das Einhorn will.«
»Und wo ist Emma? Was ist mit Emma geschehen?«
»Emma geht es gut, Mutter Noyes.«
Hannah ging die Treppe hinauf, nahm jede Stufe ganz langsam, und bevor sie das nächste Deck erreichte, war sie schon ganz außer Atem.
Mrs Noyes lief dicht hinter ihr her und sah, wie ihre Schwiegertochter stehen bleiben musste, die Hand am Geländer und die Schultern nach vorn gebeugt. Schnell war Mrs Noyes neben ihr.
»Was fehlt dir?«
»Nichts. Ich bin nur müde.«
Mrs Noyes
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