Die letzte Flut
verstehen, was sie singen. Und Mrs Noyes dachte: Wenn die Piraten nur verstehen würden, dass wir kein Spiel für sie sind…
Solange dieses Blut noch vorhanden und bevor Absolution erteilt werden konnte, musste gebetet werden.
Von sich und von Sem und von Schwester Hannah sagte Noah: »Wir drei dürfen so beten, wie wir sind. Doch Japeth und seine Braut müssen das Blut dieses Tieres teilen, da dieses Tier jetzt das eigentliche Symbol ihrer Weihe vor Jahwe darstellt.«
Während Noah und Sem hinausgingen, um in der Kapelle alles zu richten, stellte Hannah Emma auf die Füße. Das übergroße Hemd war noch immer über ihre Hüften hochgeschoben und ihre Oberschenkel waren mit Streifen getrockneten Blutes verschmiert. Emma, die ganz unter Schock stand, schaute auf ihr verschandeltes Geschlechtsteil herab und sagte zu Hannah: »Ich will nicht leben.«
Hannah sagte: »Das ist jetzt vorbei. Es wird bald vergessen sein – und es muss vergessen werden. Das, wovor du Angst hattest, gehört der Vergangenheit an.«
Emmas Blick richtete sich über Hannahs Schulter.
»Japeth ist immer noch da«, sagte sie. Er wandte ihr den Rücken zu und putzte sein Schwert.
»Ja. Aber vergiss nicht – Japeth hat sich ebenso sehr wie du durch das verändert, was hier passiert ist.«
»Wieso?«, fragte Emma und schaute ihre Schenkel und die blutigen Falten des Hemdes an. »Ihn hat doch niemand aufgeschlitzt…«
»Du hast anscheinend nicht begriffen, dass das, was dir angetan wurde, mit Japeth zu tun hat. Du warst nicht wie andere Mädchen und Frauen. Du warst schwierig. Japeth konnte nicht eindringen. Und…«
»Er konnte nicht eindringen, weil ich es nicht zuließ!«
»Nein.« Hannahs Stimme war ruhig und besonnen. »Er konnte nicht eindringen, weil du so geschaffen warst. Jetzt kann er es, weil es bei dir in Ordnung gebracht wurde.«
Emma sagte: »Ich will mich waschen. Ich will, dass du mich wäschst. Ich will, dass du es tust, nicht er.«
»Nein«, sagte Hannah. »Das darf ich nie wieder tun. Das darf man bei einem Kind. Jetzt bist du eine Frau.«
»Aber ich will Japeth nicht!«
Hannah sah, dass Emma gleich in Tränen ausbrechen würde, und sie legte ihre Hand – ganz sanft – auf Emmas Lippen. Die Falten des blutigen Hemds fielen zwischen beiden herab, und Emmas Hände bewegten sich auf Hannahs Handgelenke zu. Doch Hannahs Handgelenke waren stärker als Emmas Finger.
»Warte!«, sagte Hannah. »Warte und hör mir zu!«
Emma hätte am liebsten in Hannahs Hand gebissen – widerstand aber dem Wunsch, weil sie fürchtete, dann würde noch mehr Blut fließen.
Hannah sagte: »Von jetzt an zählt nicht mehr, was du willst…« (Hatte es jemals gezählt?, wollte Emma schreien. Wollte ich eine Noyes werden? Wollte ich all die Töpfe? Habe ich um einen blauen Ehemann gebeten?) »Das Einzige, was zählt, ist, dass Japeth auf dich Anspruch erhoben hat und dass du seine Frau bist. Wir unterstehen alle einem Edikt. Wir sind die letzten Menschen. Wir hier alle sind dieser Tatsache unterworfen. Und du bist ganz direkt Japeth Noyes unterworfen. So sind die Dinge nun einmal, Emma – so werden sie immer sein. Finde dich damit ab! Jetzt.«
Das Wort »jetzt« war ein Befehl – und Emma wusste das. Es war ausgesprochen worden, wie Mrs Noyes es getan hätte – ja sogar, wie ihre eigene dunkelhaarige, liebende Mutter es ausgesprochen hätte. Sie konnte sich nicht weigern, denn es war ein Sakrileg, einem Elternteil den Gehorsam zu verweigern. Unheilig. Heilig bedeutete: keinen Ausweg.
»Jetzt«, sagte Hannah. »Jetzt, Emma.«
Emma gab nach.
Hannah nahm die Hand von Emmas Mund – und legte ihre beiden Hände auf die Schultern des Mädchens. »Gut«, sagte sie. »Du hast den ersten Schritt hin zur Weisheit gewagt.«
Emma fragte: »Hat man dir angetan, was man mir angetan hat?«
Hannah zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie antwortete. »Nein«, sagte sie. »Nein. Mir hat man es nicht angetan.«
Emmas Augen füllten sich mit Zorn – aber ihre Stimme klang ruhig, und zum allerersten Mal dachte Hannah: Innerlich wird dieses Mädchen also auch ein Eisblock sein.
»Warum hat man es dir nicht angetan?«, fragte Emma. »Du warst auch nur eine Braut, so wie ich.«
Hannah schüttelte den Kopf. Ihre Hände ruhten auf ihrem Kind – dem Kind, das Emma nicht berühren durfte.
»Der Unterschied hat nichts mit mir und dir zu tun«, sagte sie, »sondern mit den Männern, die auf uns Anspruch erheben.«
»Aber du hast
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