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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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bete – ich muss um noch einen Tod beten.
    Er legte die Hände zusammen – schloss die Augen und fiel auf die Knie, und in dieser Haltung fanden ihn Sem und Hannah, Japeth und Emma, als sie hereinkamen, um am feierlichen Ritus des Heiligen Phallus zur Erinnerung an das Heilige Tier Jahwes, das Heilige Einhorn, teilzunehmen.
    Sogar Emma – die ihren Schwiegervater ewig hassen würde – fand es bewundernswert, dass er so inbrünstig betete.
     
     
    Krähe saß wie betäubt auf ihrem Kaminaufsatz im Inneren der Pagode. Ihre Ausflüge in den Regen hinaus waren immer weniger abenteuerlich. Sie war müde; sie hatte das Sitzen satt (wenn ich doch nur ein Ei zum Draufsitzen hätte; dann hätte es zumindest einen Sinn) – sie hatte den Regen satt – sie hatte die Kälte satt. Und die großen, breiten Wasserflächen, über denen sie wagemutig herumflog, hatten in letzter Zeit so viele Bilder des Gemetzels und Grauens geboten, dass ihre Flüge sich jetzt nur noch auf Umkreisungen der Arche beschränkten.
    Einen Feind im Kampf zu verlieren, ist eine Sache: ihn fallen zu sehen und dann in seinen Eingeweiden zu schwelgen. Doch wenn alle Feinde dem Meer anheim fallen, ist es nur traurig. Mit wem sollte man – so wie früher – den freudigen Kampf um Nahrung bestreiten? Nicht einmal mit dem eigenen Partner war es möglich – zumal sie keinen Partner hatte und die einzigen anderen Krähen sich tief unten in der Arche befanden. Und im Finstern hinunterzufliegen, um sich allein nur von toten Fischen zu ernähren, war langweilig. Worin lag der Kampf, der das Leben lebenswert machte?
    Und obwohl sie wusste, dass Mrs Noyes und Mottyl in der Nähe waren – und obwohl sie sogar Mrs Noyes ab und zu sah –, wäre etwas Gesellschaft zur Aufmunterung nicht schlecht. Die Witze, das Geschäftemachen, das Feilschen: das alles fehlte ihr ganz schrecklich. Es stumpfte den Geist ab, wenn man die Freunde nicht um ihre geschätzten Leberund Hirnbrocken prellen konnte.
    Und die Piraten, die machten keinen Spaß. Mit Vögeln wollten sie nicht spielen. Sie wollten sich nur den Menschen anschließen. Diese Narren. Nicht einmal all die Todesfälle, die Japeth bei ihnen verursacht hatte, konnten sie davon überzeugen, dass sie dem Schiff fern bleiben sollten. Sie konnte hören, wie sie davon sprachen – und dass sie der festen Überzeugung waren, »wenn wir nur Geduld haben, werden wir ihnen zu verstehen geben, dass wir ihre Freunde sind«. So stand es also um die angeborene Intelligenz der Piraten. Die Wale waren wenigstens vernünftig genug, um auf Distanz zu bleiben.
    »Nanu, was ist das?«, fragte sie sich. »Es ist ganz plötzlich so warm geworden.«
    Und es roch auch anders.
    Angesengte Federn?
    Nein. Keine angesengten Federn. Kirchengeruch, der ihr von einer sehr kurzen Woche bekannt vorkam, die sie in einem Glockenturm verbracht hatte, bevor sie durch den plötzlichen, unerwarteten Sabbat vertrieben worden war.
    Doktor Noyes hatte unter ihr das Feuer angezündet, und er brachte jetzt Opfer dar.
    Krähe hob von ihrem Nest ab, flog hin und setzte sich auf die Reling, von wo aus sie sehen konnte, wie Rauch und Weihrauch aus ihrem Kamin stiegen. Sie fragte sich, wie lange das dauern würde.
    Mein Hinterteil riecht nach Sandelholz, dachte sie.
    Na – das würde zumindest die Läuse ausräuchern.
    Mrs Noyes saß auf ihrem geheimen Treppchen; ihren Arm hielt sie in Mottyls Nest und Mottyl kuschelte sich schlafend an ihn. Die Kätzchen, die in einer Ecke zusammengedrängt lagen, zappelten im Traum. Das silberfarbene Männchen träumte offensichtlich von Gewalt: Es lag auf dem Rücken und wehrte mit allen vier Pfoten Feinde ab. Mrs Noyes streckte ihm ihren Finger hin und versuchte, es zu beruhigen. Es lutschte an ihren Fingernägeln und seine Anspannung ließ allmählich nach. Es war ein süßes, liebes Kätzchen – sehr vertrauensvoll und viel zu abenteuerlustig. Vielleicht ergaben seine Träume ja einen Sinn. Es lebte in dieser schrecklichen Gefangenschaft, umgeben von Stürmen und brüllenden Tieren.
    Gerade jetzt allerdings lagen mehrere dieser sonst brüllenden Tiere da und schnarchten, andere dagegen befanden sich in ihrer mitternächtlichen Trance – die Augen offen – den Blick auf Geister und Ahnen, nicht aber auf Träume oder Mrs Noyes gerichtet.
    Ham lehnte noch immer am Geländer und starrte auf die riesigen Tiere da unten. Er entwarf die Welt neu gemäß ihren verschiedenen Gestalten und Größen. Die Elefanten zum Beispiel

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