Die letzte Flut
wandte sich ungläubig einen Augenblick zur Seite – in der Annahme, dass, wenn sie sich wieder umdrehen würde, die Feder sicher heruntergefallen wäre.
Aber so war es nicht – auch nicht, als sie noch einen Augenblick wartete.
Die Feder rührte sich erst von der Stelle, als Hannah wieder auf die Bank stieg, sie in die Finger nahm und mit ihr auf den Obstgarten zuging. Und als sie mit der Feder an den Wölfen vorbeikam, die immer noch beim Tor kauerten, fingen diese zu heulen an.
Sie kommen und sie gehen, dachte Mrs Noyes. Gute Zeiten und schlechte Zeiten – zuerst die einen, dann die anderen. Manchmal ist es das Wetter, manchmal sind es die Leute. Gestern Abend Ham und das Opfer. Heute Abend Japeth und die Wölfe. Ein solcher Abend, gerade wie im Paradies – und einer wie Japeth knallt mit sämtlichen Türen der Hölle, bloß weil seine Wölfe nicht saufen wollen. Gute Nachrichten und schlechte.
Der gute arme Japeth! Spaziert die Straße hinunter und kommt blau und sprachlos zurück. Entsetzt. Nur wegen der Fremden. Ausgerechnet der Junge, der anderen gegenüber immer so viel Vertrauen hatte… der nie auch nur eine einzige Bitte abschlagen konnte. Jedem traute: Hatte einmal einen Dämon bei der Hand genommen – und ihn schnurstracks in die Küche geführt. Ich musste ihm zur Abkühlung Limonade geben. Er hat das Glas fast zum Schmelzen gebracht und einen Brandfleck auf dem Stuhl hinterlassen. Landstreicher und Vagabunden – Hausierer und Straßenhändler – Priester, die fremde Religionen verkauften… »Mama – da ist noch einer, der Hunger hat!« Japeth mit seinen Kobolden und Verrückten. Nicht wie Sem und Ham. Sem hatte nur Kröten und Kieselsteine mit nach Hause gebracht: »Mama – schau!« Ham machte all diese wissenschaftlichen Entdeckungen… Aber Japeth brachte Missionare heim – und jetzt ist er von Kopf bis Fuß blau.
Was soll aus der Welt noch werden?
»Na, Motty?«
Mottyl saß auf dem Geländer – sie schaute zu den Bäumen jenseits des Hofes. Ihr Fell juckte jetzt, als hätte sie sich in Brennnesseln gewälzt.
Mrs Noyes trank aus ihrem Krug und korkte ihn wieder zu.
»Soll ich dir den Rücken kraulen?«
Mottyl sprang hinunter und sofort Mrs Noyes auf den Schoß.
»Schau dir nur all die Sterne an!«, sagte Mrs Noyes. »Dabei ist die Sonne kaum hinter dem Berg… Als Nächstes scheint mittags schon der Mond!«
Der Himmel hatte eine blasse, durchsichtige Farbe – eher grün als blau – und der Dunst über den Tälern war lichtdurchtränkt. Durch diesen Dunst sah Mrs Noyes zu den Sternen auf. Nur…
Das waren doch keine Sterne. Unmöglich.
Oder aber sie waren tiefer gesunken als die Berge.
Mrs Noyes beugte sich nach vorn, die Hand auf Mottyls Schulter.
»Motty?«
Mottyl hatte die Augen geschlossen und war sehr zufrieden; unter den kraulenden Fingern schnurrte sie. Ihr einziger Gedanke war – hör jetzt nicht auf!
»Ich glaube tatsächlich«, sagte Mrs Noyes, »es kommen Feen auf unser Haus zu…«
Mottyl schlug die Augen auf.
Mrs Noyes sagte: »Runter jetzt! Ich stehe auf.«
Mottyl fiel fast auf die Veranda, als Mrs Noyes sich auf die Füße hievte und zum Geländer taumelte; sie war betrunkener, als sie dachte.
»Schau sie an! Mottyl! Schau!«
Mottyl sprang wieder auf das Geländer und schielte durch die doppelte Dämmerung ihrer trüben Augen und des Abendlichts. Gewiss, da war etwas, das aussah wie Sterne – aber kleiner – und es bewegte sich. Möglich, dass es Feen waren. Natürlich hatte Mottyl schon welche gesehen, aber das war unten im Wald, wo sie hingehörten.
»Sind sie es?«, fragte Mrs Noyes. »Kannst du es erkennen?«
Mottyl konnte es nicht erkennen.
»Ach – wenn du doch nur sehen könntest«, sagte Mrs Noyes. »Wenn nur sonst jemand hier wäre. Noah glaubt mir nie, wenn ich ihm von den Feen erzähle – und da sind sie – gleich da!«
Mrs Noyes war so aufgeregt, dass sie spontan in den Hof hinauslief.
Nun war es ganz sicher: Die Lichter, die sie beobachteten, waren tatsächlich Feen, Mottyl konnte sie hören. Das Geräusch, das sie machten, war nicht zu verkennen.
Jetzt flitzten sie über den Rasen auf den Hof zu.
Mrs Noyes winkte mit ihrer Schürze – schwenkte ihren Krug und rief ihnen zu: »Geht, zeigt euch Noah! Bitte zeigt euch Noah!«
Doch vergebens.
Mottyl lehnte sich weit über das Geländer hinaus und schielte zum Himmel.
Ein regelrechter Schrei aus Lichtern glitt über ihren Kopf hinweg und über das Dach, mit einer
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