Die letzte Flut
gelehnt war, sein Kinn senkte und wie ein Tier seinen Durst löschte: den Mund weit öffnete und das Wasser mit der Zunge in den Mund schlabberte. Nicht einmal, als er sein Gesicht im Trog mit Wasser benetzte und es den Wölfen darbot, damit sie es abschleckten – nicht einmal dann wollten sie trinken. »Wir können nicht!« und »Wir werden nicht!«, riefen sie stattdessen und kehrten auf ihren Platz beim Tor zurück.
Als sie »Wir können nicht« und »Wir werden nicht« schrien, lief es Mottyl kalt den Buckel hinunter. Noch nie hatten die Wölfe so etwas von sich gegeben – zumindest hatte sie es noch nie erlebt. Noch nie hatten sie eine solche Todesangst erkennen lassen. Mottyl fragte sich, was das überhaupt bedeuten sollte.
Doktor Noyes, der schon wieder mit dem Zusammenfalten eines persönlichen und vertraulichen Briefs beschäftigt war, den er dann tief in der Tasche seines Ärmels verstaute, äußerte eine Vermutung, die ebenso gut die Wahrheit sein konnte. Er sagte zu Japeth, der noch immer neben dem schimmernden Trog kniete: »Ich kann nur vermuten, dass deine Wölfe plötzlich und unerklärlicherweise Angst vor Wasser haben.«
»Aber würden sie es mir nicht sagen, wenn sie Angst hätten?«, fragte Japeth.
»Haben sie es dir nicht gesagt?«, fragte Noah zurück. Woraufhin er sich abwandte und sich wieder in seine Laube verzog.
Mrs Noyes ging ins Haus zurück. Emma, die sich versteckt hatte, aus Angst, die hundert Kartoffeln schälen zu müssen, die Mrs Noyes mit ihrem Messer »geblendet« hatte, versuchte in den Schatten der Trompetenwinde zu entkommen, wurde aber von Hannah aufgegriffen, die sie in Richtung Küche in Marsch setzte. »Aber ich muss doch all die Böden kehren! Wie kann ich das schaffen, wenn ich auch noch hundert Kartoffeln schälen muss?«, fragte das Kind. »Mit Hilfe der Laterne, um Mitternacht, wenn es sein muss«, sagte Hannah und schubste sie durch die Tür.
Mottyl schaute aufmerksam zu, wie Hannah wegging und sich auf eine Bank setzte, seltsamerweise in der prallen Sonne. Hannah richtete sogar ihren Blick zum Himmel – und änderte ihre Haltung so, dass das Sonnenlicht noch intensiver auf ihr Gesicht und ihre Schultern fallen konnte. Seltsam, dass die Menschen die Sonne anbeteten, indem sie ihr das Gesicht hinhielten. Aber kein Mensch war seltsamer als Hannah Noyes, Sems Frau.
Magerer als jedes weibliche Wesen, das Mottyl je gesehen hatte, mit einem herberen Gesicht, intelligenter gewiss als ihr Mann – fähig, mit Doktor Noyes über fast jedes Thema eine Unterhaltung zu führen: Hannah Noyes war schlichtweg ein vollkommenes Rätsel. Kein Zeichen von Liebe, Freundlichkeit oder Freude war ihr jemals über die Lippen gekommen, hatte jemals den Ausdruck ihres Gesichts geprägt. Wenn sie sich an ihre Röcke drückte, hatte Mottyl niemals etwas von Vergnügen oder Wärme gespürt. Niemals streckte sie die Hand hinunter oder bückte sich und lockte sie mit einer Schüssel voll Sahne oder einem Teller mit Innereien. Nie. Sie war ebenso trocken wie das Gras, woraus Hannah ihre Hüte und Körbe flocht; so gespannt wie ein Weidenast, der sich unter schwerem Schnee beugt. Auch jetzt, während sie in der Sonne saß, hatte Hannah etwas im Sinn – sie wartete auf etwas, und vielleicht konnte Mottyl, weil sie einen Jagdinstinkt besaß, erahnen, was das sein konnte. Durch das Gras beobachtete sie Hannah und sie verstand genau, was diese Frau fühlte. Es war nichts anderes als das, was Mottyl fühlte, wenn sie starr und atemlos über einer Beute verharrte.
Hannah griff in ihre Tasche und zog die Feder heraus. Erst konnte Mottyl nicht genau sehen, was sie da hielt, bis Hannah den Arm ausstreckte, die Feder ins Sonnenlicht emporhob und zusah, wie die blasse bronzene Patina sich drehte und alle Farben des Himmels und der Erde spiegelte: blau, rot, gelb, lila, orange und grün. Ganz offensichtlich war Hannah von der Feder entzückt und erstaunt darüber, was sie alles offenbarte. Mottyl war nicht weniger überrascht – und nicht wenig besorgt. Von welchem Vogel mochte die Feder stammen? Es musste ein riesiger Vogel sein, da die Feder allein fast so lang war wie Mottyl.
Nun tat Hannah etwas, was man mit einer Feder in der Hand zu tun pflegt: Sie stieg auf die Bank und warf die Feder in die Luft.
Diese fiel aber nicht zu Boden.
Sie stieg auch nicht empor, sie blieb einfach genau in Armeslänge über Hannahs Hand schweben, bewegungslos wie ein Stein.
Hannah stieg von der Bank herunter und
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