Die letzte Flut
Michaels Verdacht war.
Nein – es war mehr als nur das. Mehr sogar als die Summe all dessen. Es waren die Fragen, die Jahwe, dem immer mehr vor der Menschheit schauderte, angedeutet hatte und die gefürchteten Antworten darauf, die im Zusammenhang mit Lucis Anwesenheit an diesem Ort standen.
Michaels Stellvertreter waren bei Jahwe geblieben. Man musste immer Wache halten, selbst in den Pavillons von Jahwes engsten und vertrautesten Freunden. Michael Archangelis stand allein in der Finsternis – sein Schwert an seiner Hüfte, seinen Jagdspeer in den Händen.
Die Sterne und der Mond (echte Sterne, echter Mond) spiegelten sich sanft und diffus im goldenen Glanz seines Brustharnischs, der mit geschmiedeten Darstellungen vergangener Schlachten und unvermeidlicher Siege dekoriert war. Michael hatte nie, doch, nur einmal, eine Schlacht verloren. Sein Krieg gegen Lucifer – der im Himmel als Sieg gefeiert wurde – obwohl er in Michaels Augen überhaupt keiner war. In Michaels Augen war sein Bruder nicht bezwungen worden; er war entkommen.
Der Berg war voller Geräusche – einige kamen aus dem blauen Pavillon, andere aus der Dunkelheit. Vögel, die nicht schlafen wollten oder konnten, fingen plötzlich an zu singen. Auch Grillen und Frösche sangen, obwohl ihre Lieder aus allen Richtungen ertönten, ganz unmöglich zu orten waren – mal dort, dann weiter drüben, dann unten am Berg, in der Nähe des Waldes. Links von ihm bellte die Füchsin – und der Fuchs gab hinter ihm Antwort, hoch oben im Zedernhain. Aus dem Wald ertönte ein Todesschrei und die Eule flog in die Bäume hinauf, um zu schmausen. Aus weiter Ferne – vielleicht von jenseits des Flusses, kam ein weiterer Schrei: »Ich bin hier – wo bist du?« – von einem ziemlich großen Tier. Michael stand da und hörte das alles und er sah die Sterne und er sah den Mond – und er konnte den Geruch der Bäume in den großen Hainen riechen, der halb gemähten Felder, selbst der Erde, der Blumen in Mrs Noyes’ Garten, des Staubes und der Asche im Vorhof und des widerlichen Rätsels, das im Teich verborgen war, und er dachte: Von allen Wohnstätten Gottes ist diese die geheimnisvollste. Der Himmel mit seinen vielen Sonnen und dem schattenlosen Weiß war vollkommen und voraussehbar – war bekannt; der Garten Eden war ein überwuchertes Wunder – jedoch leer; und die Straße ins Land Nod, mit ihrem Kokainstaub und das Land Nod selbst mit seinen dunkelgrünen Verstecken und seinen roten mohnübersäten Feldern war ein Zufluchtsort – gewiss, aber im Land des Vergessens gab es keinen Herausforderer; es war ein Ort allein nur für Schlafende. Und Michael war hellwach. Er schlief nie; wollte auch nie schlafen.
Er machte sich auf den Weg bergab; durch seine Tasche hindurch fühlte er die Feder, wie sie an seinem Oberschenkel brannte. Aber das Feuer kümmerte ihn nicht. Es erinnerte an andere Zeiten – an bessere und an schlechtere –, als er gegen die Heere seines Bruders in die Schlacht gezogen war und den Sieg davongetragen hatte – als er gegen seinen Bruder gekämpft und verloren hatte.
Nicht einmal Jahwe konnte er davon überzeugen, dass er die Schlacht verloren hatte. »Er ist doch weg, nicht wahr? Ausgestoßen und gefallen?«
»Ja, Vater.«
(Nein, Vater: gefallen nur, weil er gesprungen ist.)
»Wir haben seinen Stern mit eigenen Augen untergehen sehen.«
»Ja, Vater.«
»Und wo ist er gelandet?«
(Da drüben.)
»In der Hölle.«
Gott, Unser Aller Vater, darf die Wahrheit nie erfahren, beschloss Michael. Der Älteste der Ältesten war jetzt so geschwächt und verzweifelt, wegen der Sünden, welche die Menschheit auf sich geladen hatte, so außer Sich; wenn man Ihm jetzt sagen, Ihn zwingen würde, der Tatsache ins Gesicht zu sehen, dass Lucifer Mensch geworden war – so würde diese Wahrheit Jahwe über den Rand stoßen und wo – wo landen lassen?
Im Wahnsinn?
Abgründe.
Jahwe am Abgrund.
Aus dem Gleichgewicht.
Und ohne die Kraft, springen zu können (falls er wollte), nur mit der Neigung des Alters, zu fallen.
Dennoch, Michael Archangelis konnte ihn retten.
Am Berghang wimmelte es von Nachtgestalten: Mäuse, Frettchen, Käfer, Eulen. Unten, bei den Zäunen waren die Feen ganz aufgeregt. Aus dem Wald taumelte etwas und die Feen waren offensichtlich die Ursache dafür, dass es ins Freie getrieben wurde. Aber es konnte weder über noch durch den Zaun gelangen; und als es stecken blieb, geriet es ziemlich in Panik.
Michael sah
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