Die letzte Flut
es ihm, sich zu verstellen. Im Paradies gab es keine Drachen. Aber als sie Kinder waren, hatte Lucifer beim Spiel immer ihre Rolle beansprucht, während Michael den Part des Drachentöters wählte.
Jetzt aber, hier, war es kein Spiel mehr: Lucifer mit seinen Schuppen – Michael in seiner Rüstung. Sämtliche weißen Sonnen des Paradieses hatten nie ein so helles Licht verbreitet wie der Erdenmond in diesem Augenblick in Michaels Augen – als er über seinem Bruder verharrte, der, im Zaun gefangen, um sich schlug. Ein Stoß – genau zwischen die Schulterblätter – die Speerspitze tief durch Rückenmark und Herz getrieben – ganz durch, bis in die weiche, aufgewühlte Erde, wo der Drache in seinem letzten verzweifelten Kampf gescharrt hatte –, und die Bestie war tot. Nur eine letzte schwache Stichflamme kam noch – ein ganz harmloses Aufbäumen –, dann fiel der Drache zu Michaels Füßen auf die Seite.
Er roch nach Pinien und Flussalgen und versengtem Moos und seine großen blauen Augen waren tatsächlich – obwohl das eigentlich nicht sein konnte – mit Tränen gefüllt.
Michael Archangelis zitterte vor Staunen und Entsetzen über das, was er getan hatte. Er zitterte so sehr, dass er den Speer nicht herausziehen konnte – ja er konnte nicht einmal das Bein hochheben, um seinen Fuß in schöner klassischer Tradition auf der Bestie zu platzieren: Der Drachentöter als Sieger – die Hand auf der Scheide, den Fuß auf dem Hals.
Um dem Pochen in seiner Brust Einhalt zu gebieten, atmete er tief ein und aus, bis er sich endlich wieder bewegen konnte.
Hoch ging sein Fuß, auf die Schulter – hoch ging seine Hand, zum Schwert an seiner Taille. Seine Zehen tasteten sich über den triefenden Rücken, bis sie die gesuchte Vertiefung fanden, wo der Speer eingedrungen war und die Knochen nachgegeben hatten; und er stand dort, in perfekter Haltung vollkommen im Licht von Mond und Sternen, im goldenen Licht, über seinem Bruder, dessen Kopf er Jahwe zu Füßen legen würde.
»Vollbracht«, sagte er. »Vollbracht für immer und ewig.«
»Hast du etwas gesagt?«, fragte eine Stimme.
Michael Archangelis erstarrte auf der Stelle.
War es die Stimme des Drachen?
»Ich glaubte, eine Stimme zu hören«, sagte die Stimme. Wo kam sie nur her?
»Bist du das?«, fragte Michael den Drachen schließlich. »Hast du gesprochen?«
»Nein, ich war’s. Hier, über dir.«
Michael schaute hinauf und verlor dabei fast das Gleichgewicht.
In den Ästen direkt über seinem Kopf saß Luci – sie trug etwas Blasses und starrte mit breitem Grinsen aus einem weiß bemalten Gesicht herunter.
»Wunderbare Szene«, sagte sie. »Sehr schöner Versuch, Schätzchen. Ich nehme an, du dachtest, der Drachen sei ich. Aber so war’s nicht, ich bin’s nicht.«
Michael trat vom Drachen zurück und ließ dabei den Blick nicht von ihr. »Ja«, sagte er. »Ich dachte wirklich, ich hätte dich erwischt. Aber ich bin nicht ganz blöd. Irgendwie wusste ich, er konnte unmöglich du sein. Für dich war er nicht stolz genug. Er hat überhaupt nicht gekämpft. Du hättest zumindest das Feuer besser eingesetzt…«
»Darauf kannst du Gift nehmen.«
Michael machte Anstalten, den Speer aus dem Leib des Drachens herauszuziehen.
»Willst du das wirklich tun?«, fragte Luci. »Ich meine herauskriegen, wen du eigentlich umgebracht hast?«
Das Herausziehen des Speeres würde die Form, die im Drachen gefangen gehalten wurde, befreien – falls es überhaupt eine gab – und das Opfer würde bei seinem Entkommen ein paar Augenblicke sichtbar werden. Nicht alle Drachen beherbergten gefangene Formen, aber man vermutete sie besonders bei den größeren Exemplaren.
»Na?«, spottete Luci.
»Da ich weiß, dass ich dich wieder verfehlt habe«, sagte Michael, »ist es mir ganz egal, um wen es sich hier handelt.« Sprach’s und zog den Speer heraus.
Luci neigte sich nach vorne und starrte die im Gras liegende Bestie an, deren Schwanz noch immer in den Zaunstangen verfangen war. Bip und Ringer und die Feen neigten sich ebenfalls nach vorne; sie hofften auf die Befreiung eines freundlich gesinnten Gefangenen – oder zumindest auf den Nervenkitzel beim Anblick eines getöteten Teufels. Aber es kam nichts. Überhaupt keine Veränderung.
Der Drache lag einfach da – er dampfte und war einfach nur ein Drache. Ein toter.
»Was für eine Enttäuschung«, sagte Luci. »So etwas wie doppelte Enttäuschung für dich, lieber Michael. Weder ich noch irgendjemand.
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