Die letzte Flut
einen riesigen, um sich schlagenden Schwanz, der durch die Lichter der Feen hin- und herdrosch – und plötzlich erkannte er einen uralten Feind: den Drachen.
»Ha!«, rief er laut – und all seine Körpersäfte gerieten in Wallung. Hier stand eine Schlacht zu erwarten: der allerbeste Zeitvertreib.
Michael hob den Speer in seiner Hand, balancierte ihn aus, noch während er bergab zu laufen begann. Mit der anderen Hand löste er sein Schwert aus der Scheide, bereit, den Drachen zu köpfen, beim Laufen sah er das Bild im Geiste schon vor sich.
Wenn die Feen mitmachten, könnten sie den Drachen direkt auf seinen Speer zutreiben – obwohl die Jagd ohne Verfolgung, ohne Umzingeln, ohne den unterwürfigen Schrei des Besiegten nur halb so viel Spaß machen würde. Trotzdem, ein Drache war eben ein Drache – und der Tod eines jeden Drachen bedeutete einen weiteren Schlag gegen Lucifer. Und wer weiß? Vielleicht war genau dieser Drache der Verräter.
Aber die Feen machten nicht mit. Als sie sahen, wie der Engel direkt aus dem Berg auftauchte, mit dem Speer in Kampfstellung und halb gezogenem Schwert, hielten sie inne und staunten.
Wenn ein Mensch den Berg herunterlief, konnte das nur Ham oder Sem sein. Schlimmstenfalls Japeth. Aber ein Engel in dieser Größe – der im Licht von Sternen und Mond glänzte, als er auf sie zugeflogen kam, ein bewaffneter Engel –, das war etwas ganz anderes. Im Wald gab es schon einen bösen Engel – den Hundetöter – und nun kam da noch ein anderer.
Obwohl die Feen genauso wenig wie Michael Archangelis bereit waren, eine Niederlage einzugestehen, waren sie von Natur aus scheu und vorsichtig. Ihre Beflissenheit, ihr Bestehen auf einer ganz bestimmten Art von Ordnung – ihr Pflichtbewusstsein – würden sie viel eher in Schwierigkeiten bringen als etwaiger Wagemut oder Leichtsinn. Sich mit Drachen anzulegen war für sie kein Vergnügen – es war eher eine Verpflichtung. Es brauchte eine gehörige Portion Mut, um einen Drachen anzugreifen – aber es half nichts, einer musste es schließlich tun.
Der Drache, um den es hier ging – dem so viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde –, war sehr groß, oder besser gesagt fett. Seit Wochen schon ernährte er sich von Forstbewohnern und nun war er über den Fluss gekommen, um ein paar kleinere, süßere, sich von Früchten und Rinde nährende Tiere zu ergattern – zur Abrundung seines Mahles, bevor er sich schlafen legte. Auf dem Weg zu den Suhlen hatte besagter Drache angehalten, um einen jungen Lemuren zu schnappen, dem die Feen, wie es der Zufall wollte, gerade honigüberzogene Mücken zum Geschenk machen wollten.
Als sie sahen, dass der junge Lemur vom Drachen bedroht wurde, ließen die Feen die Mücken fallen und griffen an. Bei Drachen basierte ihre Strategie auf dem Wissen, dass diese zu Anfällen neigten und sich leicht desorientiert und konfus verhielten, wenn man sie mit bestimmten Lichtmustern konfrontierte. Durch das plötzliche Erscheinen der Feen aufgeschreckt und geblendet, wurde der Drache von seiner beabsichtigten Beute abgelenkt und zum Zaun getrieben. Fast im selben Augenblick verfing er sich völlig in den Zaunstangen, denn er war in Verwirrung geraten angesichts der ersten sicheren Anzeichen einer Attacke.
Als Michael Archangelis auftauchte, musste der Drache erkannt haben, dass es sich womöglich um keine Attacke handelte, er aber auf jeden Fall eine Unheil verkündende Erfahrung machte. In alle Richtungen begann er mit Zaunstangen zu werfen – einige landeten sogar in den Bäumen. Da Feuer und Lärm seine wichtigsten Waffen waren, versuchte er schleunigst beides zu produzieren, aber entweder hatte er zu viel gefressen oder er war völlig aus der Fassung geraten – nichts von beidem wollte ihm gelingen. Ein paar trockene Funken – ein bisschen kümmerliches Gebrüll –, mehr schaffte er nicht.
In der Zwischenzeit zogen sich die Feen in eine nahe gelegene Pappel zurück, wo sie mit Bip und Ringer und noch ein paar anderen beobachteten, wie sich die Situation entwickelte.
Jetzt war Michael Archangelis sicher, dass er einen so großen, so geschmeidigen, so schönen Drachen noch nie gesehen hatte. Seine ganze Phantasie war damit beschäftigt, zu begründen, warum gerade dieser Drache sein Bruder Lucifer sein sollte – sein musste – war.
Erst einmal war es seine Größe – Lucifers Stolz hätte es darunter nicht getan. Seine schöne schuppige Haut, sein wunderbares, Ehrfurcht weckendes Antlitz ermöglichten
Weitere Kostenlose Bücher