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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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Schade. Mehr Glück beim nächsten Mal.«
    Michael wischte den Speer im Gras ab und schaute dann zu seinem Bruder im Baum.
    »Du scheinst dich ja gut zu amüsieren«, sagte er.
    »Großartig«, sagte Luci und glitt vom Baum zu Boden.
    »Was willst du mit alldem erreichen?«, fragte Michael.
    »Mit alldem was?« Luci schüttelte ihre feinen Röcke aus und führte ihre Hand zu ihrem Haar.
    »Na – erst einmal, dass du dich als Frau verkleidest. Und als Fremde.«
    »Ist doch nichts Verkehrtes dabei, sich als Frau zu verkleiden. Ebenso gut eine Frau wie sonst etwas. Und was, wenn man fragen darf, verstehst du unter ›Fremde‹?«
    »Jemand, der nicht aus dieser Gegend stammt«, sagte Michael, als zitiere er aus einem Handbuch für Grenzposten.
    »Die schrägen Augen und so weiter? Die pechschwarzen Haare? Das schneeweiße Gesicht? Gefällt es dir nicht? Ich liebe es.« Luci machte ein paar Schritte durchs Gras und stellte das Kleid zur Schau, das einen sehr weiten Rock hatte und um die Taille mit einer breiten, dunklen Schärpe sehr eng gegürtet war. Beim ersten Schritt schon geriet sie fast ins Stolpern, fiel aber nicht hin. »Verzeih!«, sagte sie. »Ich habe den Dreh noch nicht ganz raus. Kommt noch…«
    Michael schaute zu, wie sie zwischen dem Mondlicht und dem Schatten der Bäume hin- und herwechselte, und bemerkte: »Es geht das Gerücht, dass du heiraten wirst.«
    »Stimmt.«
    »Aber – er ist – er ist ein…«
    »Ein Mann. Ja. Na und?« Luci zupfte an ihren Handschuhen, um die Finger noch länger zu machen.
    »Aber du bist ein… du bist ein…«
    »Sag nicht Mann.«
    »War auch nicht meine Absicht. Aber du bist männlich.«
    Luci zuckte mit den Schultern. »Ich verkleide mich gern«, sagte sie. »Hab ich schon immer gern getan. Das weißt du doch. Ich als Papst – ich als König. Warum nicht? Es ist doch ganz harmlos.«
    »Es wird nicht harmlos sein, wenn er mit dir schläft. Menschen tun das, weißt du.«
    Luci lächelte. »Ja«, sagte sie. »Ich weiß.«
    »Und? Was wirst du dann tun?«
    »Ich glaube, das geht dich überhaupt nichts an, aber wenn du es unbedingt wissen willst: Ich werde improvisieren.« Luci schaute den Berg hinauf zum blauen Pavillon, der halb durchsichtig in der Finsternis leuchtete. Ihre Stimmung änderte sich; der scherzhafte Schlagabtausch mit Michael war zu Ende. »Sag, wie geht es Ihm?«, fragte sie. »Er sah so alt aus… so krank…«
    »Er stirbt«, sagte Michael.
    Luci blickte ihn an und sah dann, ganz langsam, wieder zum Pavillon hinauf.
    »Er kann nicht sterben«, sagte sie; sie flüsterte es fast.
    »Warum nicht?«
    »Er ist nicht fähig zu sterben…«
    »Das dachte ich auch. Aber Er ist Gott. Und wenn Gott sterben will…«
    »Dann ist Gott fähig dazu.«
    »Ja.«
    Jetzt war es fast still. Nur Insekten; nur Frösche. In den Bäumen schliefen die Feen und die Lemuren.
    »Wäre es nicht wunderbar«, sagte Luci nach einer Weile, »wenn du und ich weinen könnten?«
    »Wenn du und ich weinen könnten«, sagte Michael, »bezweifle ich, dass du um Ihn weinen würdest. Um dich vielleicht, mit deinem verdammten und verdammenswerten Stolz – du meinst, du bist ihm ebenbürtig…«
    »Das dachte ich nie. Niemals. Ich habe nur gedacht und gesagt…«
    »Warum? Du hast immer nur warum? gesagt. Warum dies und warum das und warum alles. Wie wagst du es. Wie wagst du es.«
    »Nicht, Michael. Ich mag nicht. Du langweilst mich… das hier ist langweilig.«
    Weiter oben auf Noahs Berg krähte ein Hahn – trotz der Finsternis – und zum ersten Mal wurde den Brüdern bewusst, wie spät es war. Und wie früh.
    »Das hätte ich wissen müssen«, sagte Luci. »Ich spüre immer noch ein leichtes Zucken gleich vor der Morgendämmerung. Aber seitdem mein Stern gesunken ist, vergesse ich immer, wie spät es ist.«
    Sie schauten einander an.
    »Geh!«, sagte Luci.
    Michael drehte sich um und schritt davon – konnte aber nicht widerstehen und schaute zurück. »Ich habe geschworen, Ihm nicht zu sagen, dass du hier bist«, sagte er. »Es würde Seine letzten Tage verderben, wenn Er wüsste, dass du hier und nicht in der Hölle bist.«
    »Schade«, sagte Luci. »Ich wollte Ihm gerade meine liebsten Grüße ausrichten.«
    »Diese Botschaft würde ich nie überbringen«, sagte Michael. »Nie.«
    »Ja. Dann…«, sagte Luci. »Ich nehme an, wir werden einander wieder begegnen – du und ich. Und ich vermute, du wirst mich wieder verfehlen.«
    Michael drehte sich wortlos um und ging den Berg hinauf.

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