Die letzte Flut
Luci sah ihm nach, teils erleichtert, teils bedauernd. Menschliche Gesellschaft war nicht dasselbe wie die Gesellschaft von Engeln. Nur ein Engel konnte das ermessen. Luci würde Michael mehr vermissen als alle ihre anderen Brüder. Wie bei allen Feinden lag in ihrem Hass auch Zuneigung. Sogar Liebe.
»Auf Wiedersehen!«, rief sie.
Michael lief weiter, drehte sich nicht um.
»Auf Wiedersehen!«, rief Luci nochmals. »Vergiss nicht – vergiss nie –, nur Michael Archangelis kann mich töten! Sonst niemand! Niemand! Niemals!«
Wieder krähte der Hahn.
Das erste blasse Licht schien silbern aus östlicher Richtung.
Michael hob seinen Speer – zu einer Art Abschiedsgruß –, drehte sich aber dennoch nicht um. Er lief weiter. Den Berg hinauf.
Das Gras bewegte sich. Ein Vogel sang. Ein erstes Tier betrat das Feld. Luci klammerte sich ganz fest an das Bild, das sie jetzt verkörperte. Hier würde es einsam sein – aber wunderbar. Schließlich hatte sie sich nicht ohne Grund der Menschheit angeschlossen.
Etwas Junges saß auf dem Zaun: ein Vogel. Eins dieser großen, schlaksigen Vogelbabys, die nur aus großen Flecken und Glotzaugen und stummeligen Flügeln bestanden. Noch keinen Schwanz hatten. Ein Rabenkind vielleicht – mit einem nackten gelben Schnabel, der unaufhörlich aufging und schrie: Futter! Futter! Füttere mich! Futter! Währenddessen stöberte seine Mutter in der Drachenleiche nach Leber- und Herzstückchen. Füttere mich! Füttere mich! Futter! Futter! Futter!
Es war der große Schrei des Lebens: der Schrei alles Lebendigen.
Füttere mich!
Deswegen war Luci Mensch geworden. Um zu überleben. Um den Holocaust im Himmel zu überleben. Um den Holocaust auf Erden zu verhindern.
Keiner hatte die Erlaubnis zu schlafen.
Jahwe saß auf den Stufen Seines Podiums, während Hannah auf dem Boden zu Seinen Füßen ruhte und Noah auf der untersten Stufe saß.
Die hohe Glasflasche, der runde Kupferpfennig und der Krug mit reinem Wasser standen auf einer anderen Stufe auf ihrem Tisch – wie die Figuren in einem Spiel zwischen Menschen und Göttern.
Jahwe hatte einen Großteil der Nacht – zumindest den Rest, der davon übrig war – mit Weinen verbracht; jetzt redete er wie im Fieber.
Hatte Noah die Geschichte vom Obstgarten verstanden? War es nicht monströs, dass sogar die Allerweisesten unter den Weisen danach trachteten, ihren Gott zu verdrängen? Dass sie Gott fragten: warum und wie? Hatte Noah wirklich verstanden?
Ja, das hatte er.
Und wieder berichtete Jahwe von den Gräueln seiner Reise – dem Hohngelächter – den Meuchelmorden – den Gewalttaten – den entsetzlichen Szenen der Verworfenheit und des Bösen. Und die ganze Zeit spielte er mit dem Pfennig – spielte mit der hohen Glasflasche – spielte mit dem Wasserkrug – goss Wasser ein – noch einmal – und noch einmal…
Endlich stand er auf.
Noah tat es ihm nach.
Und Hannah wurde aus einem Zustand, der dem Schlaf sehr nahe kam, aufgefordert auf die Füße zu kommen.
Alle drei standen sie beisammen.
Und Jahwe sagte zu Noah: »In Unserer Geschichte vom Obstgarten haben Wir nicht von der Moral gesprochen. Die Moral – wie sie zwischen Uns beiden steht: dir und Uns – dir und deinem Gott. Und diese Moral ist: Nur der einzige Auserwählte des Herrn darf das Wort hören…«
Noah spürte, wie ihn ein entsetzlich kalter Schauer durchlief- die Kälte der Erkenntnis.
Er war eben auserwählt worden.
»Lass uns jetzt zusammen spazieren gehen, alleine, in deinem Obstgarten«, sagte Jahwe. Er legte Seinen Arm um Hannahs Schultern, um Sich zu stützen. »Du«, sagte Er zu ihr, »darfst mit Uns kommen und am Tor stehen bleiben – hineingehen darfst du nicht.«
Als sie sich vom Pavillon entfernten, war die Sonne gerade dabei aufzugehen, trotz der Abwesenheit des Morgensterns – und Jahwe sagte gerade zu Noah: »Dein Trick… die Flasche… der Pfennig… nur durch das Hinzufügen von Wasser…« Er verschwindet.
Sie sammelten sich dort, wo der Weg eine Biegung machte und bergab führte: Jahwe und Doktor Noyes in der Mitte – Hannah und Sem, Japeth und Emma in einer Gruppe auf einer Seite; Ham im Schatten des Pavillons – alle warteten sie.
Michael Archangelis beaufsichtigte die Aufstellung der Vorreiter – jeder war zehn Schritte vom nächsten entfernt, bereit, der Kutsche und dem Gefolge der Engel und Diener vorauszureiten. Ein Teil der Letzteren würde zu Fuß gehen, während andere in von Maultieren
Weitere Kostenlose Bücher