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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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auf den Weiden, als sie ihnen allen das Singen beigebracht hatte! Das waren ihre allerliebsten Zeiten. Ihre Lieblingszeiten. Und jetzt…
    »In Paradisum deducant te Angeli«, murmelte sie und schaute hinunter zu der Stelle, wo zu anderen Zeiten die Schafe und Lämmer gewesen waren. »Ins Paradies mögen dich die Engel führen; bei deiner Ankunft mögen dich die Märtyrer empfangen – und dich in die Heilige Stadt bringen.«
    »Amen.«
    Mrs Noyes fiel fast in Ohnmacht.
    »Wer hat das gesagt?«, flüsterte sie. Werde ich verrückt? Stimmen?
    »Ich«, verkündete eine dunkle Stimme – irgendwo über ihrem Kopf.
    Mrs Noyes schaute hinauf.
    »Wer ist da?«
    »Ich bin’s nur«, und es rauschte, als Krähe hinunterflog und auf dem obersten Brett des Lämmerverschlags neben Mrs Noyes aufsetzte. »Ich habe dich überall gesucht. Ich bin hierher gekommen, um dich zu Mottyl zu bringen.«
    Lilafarbener Regen war in Onans Regen übergegangen und Onans Regen in dampfähnlichen Regen und der dampfende Regen in heißen und der heiße in den Regen, der nun niederging: Tannenzapfenregen. Allein das Geräusch, das er machte, war Angst erregend – nicht so sehr wegen der Lautstärke, obwohl es laut genug war – sondern eher, weil es so seltsam war. Jedes zapfengroße Kügelchen war ein Paket, und als jedes dieser Pakete dort aufschlug, wo es zuerst hinfiel, platzte es – und ließ dabei eine Flüssigkeit frei, die eher öl- als wasserartig war: golden und glänzend. Folglich verwandelten sich alle Bäume und Gebäude – sämtliches Gras und die Erde – in etwas Goldüberzogenes, Glänzendes, das nicht nur unheimlich, sondern auch heimtückisch war.
    Als Mrs Noyes aus der Scheune hinausspähte, erblickte sie eine Welt, die mit Balsam aus Gilead hätte gesalbt sein können. Sie duftete sogar nach Harz und üppigen Kräutersäften. Was hatte Jahwe als Nächstes vor? Jede neue Art Regen schien eine neue Art düstere Schönheit hervorzubringen.
     
     
    Mrs Noyes verließ den Stall und ging zum Hof, sie zog ihre Tücher und Schürzen über den Kopf und lief im goldenen Regen durch das Tor und den Berg hinunter. Über ihr flatterte Krähe, etwas beschwerlich, und gab Anweisungen: »In diese Richtung – da drüben – hierher!« Mrs Noyes hatte Mühe mitzuhalten.
    »Wo bringst du mich hin?«
    »Hinunter durch den Wald. Beeil dich! Schnell!«
    Dass sie sich beeilen müsse war die allerletzte Aufforderung, die Mrs Noyes jetzt nötig hatte. Sie wurde ganz ohne eigenes Zutun getrieben. Das Gras hatte eine ölige Patina, und obwohl es ihr schwer fiel, Krähe zu folgen, kam es ihr vor, als würde sie auf Schlittschuhen den Berg hinuntersausen. Gott, verschone mich mit Löchern von Waldmurmeltieren!
    Was Krähe betraf, machte ihr der Flug andere Sorgen. Ihr Gefieder wurde langsam vom Öl überzogen; oder vielleicht sollte man eher sagen, vergoldet.
    »Der Regen zieht mich hinunter«, rief sie Mrs Noyes zu. »Schnell! Schnell!«
    Endlich erreichten sie den Zugang zum Wald, durch den Mottyl am Tag zuvor verschwunden war. Aber jetzt waren keine Feen da und vielleicht auch keine Tiere. Jedenfalls war nichts zu sehen.
    Als sie durch den Wald auf die andere Seite schaute, bemerkte Mrs Noyes, dass er ganz golden war. Jeder Baum, jeder Zweig und Ast waren mit glänzendem Balsam überzogen und die schwer gewordenen Blätter fielen zu Boden, als sie den Wald betrat. Im Zwielicht verschlug ihr ein atemberaubendes Schauspiel den Atem – Mrs Noyes war sprachlos.
    Wo können nur alle sein?, fragte sie sich. Wo sind all die Tiere hin? Und dann, als ihre Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnten, begriff sie.
    Auf dem Boden – auf den Ästen – auf jedem umgekippten Baum befand sich eine goldene Menagerie: Stillgelegt und stumm ertranken alle langsam in Jahwes Alchemie.
     
     
    Endlich erreichten sie einen Baum an der am weitesten entfernten Seite des Waldes – und Krähe, die keine Federlänge weiter hätte fliegen können, setzte sich in das oberste Geäst. Ihre Stimme war sehr schwach.
    »Da wären wir«, rief sie zu Mrs Noyes hinunter.
    »Wo?«, fragte Mrs Noyes, selbst außer Atem und ohne Stimme. »Das ist nur ein alter Baum; Mottyl sehe ich nirgends.«
    »Schau herauf!«, schrie Krähe. »Schau hierher!«
    Mrs Noyes schaute hinauf.
    Nichts.
    Nicht einmal Krähe.
    »Ich kann nicht einmal dich sehen, von meiner Katze ganz zu schweigen«, sagte Mrs Noyes. »Hör mit den Spielereien auf! Wo ist sie?«
    »Du wirst schon hinaufklettern müssen,

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