Die letzte Flut
Wäscheklammern, Nadeln, Scheren, Tüten mit Heilkräutern und Heftchen mit Stecknadeln. Säckchen voll Rosenblättern, die sie aus der Aussteuertruhe gerettet hatte. ALTER KRAM SO VIEL DAS HERZ BEGEHRT! Hätte sie als Schild vor sich hertragen können.
Mrs Noyes rülpste und trank noch einen Schluck Gin.
Was nun, alte Frau?
Noch ein letzter Blick auf alles – und dann den Berg hinunter um zu sterben.
ICH WILL NICHT STERBEN.
Aber – ich werde.
Mrs Noyes stand auf und warf mit einer dramatischen Geste die Enden ihrer »Halsbekleidung« über die Schulter. Sie tat es mit so viel Wucht, dass sie fast hinfiel; wie gewöhnlich war sie sich nicht bewusst darüber, wie betrunken sie schon war.
Sie sah zu dem Tierhaufen im Hof – vom Regen gepeitscht und von anderen Tieren angefressen – und wandte sich ihm zu, als wäre er ihre Gemeinde: »Zu wem, zum Teufel, soll man beten, frage ich mich, wenn man leben will und es keinen Gott gibt?«
Sie versuchte das Ganze durch den Wolkenbruch hinweg klar zu fixieren, doch ohne Erfolg – sie sah nur den See, der sich allmählich um die toten Tiere bildete, sah, wie alle so still und stumm dort lagen – keiner von ihnen hatte irgendeine Antwort für sie.
»Vielleicht sollten wir zueinander beten«, sagte Mrs Noyes – sie ging näher auf sie zu, versuchte nicht einmal ihre Füße aus dem Wasser zu heben – ging einfach mitten in den See, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. »Zueinander beten – ist das die Antwort? Wie ich zum Fluss betete, als ich am Ertrinken war…« Sie hielt inne; der Ginkrug hing von ihren Fingern. »Vielleicht – wenn ich zu Mottyl beten würde – könnten wir einander sogar finden. Meint ihr, dass das möglich wäre? Ich hätte nichts dagegen, sie zu finden. Ich meine – wenn ich sie finden könnte – wären wir nicht allein.«
Der Regen war jetzt in ein Prasseln übergegangen – mit Tropfen, so groß wie Tannenzapfen.
Mrs Noyes stieg den Berg hinauf und setzte sich ins Badhaus.
Dort war das Geräusch des Regens gedämpft. Zuber und Eimer und zurückgelassene Handtücher stapelten sich in den Regalen oder lagen auf dem Fußboden. Die großen weißen Laken, in die sich Noah in den Nächten eingewickelt hatte, als er hierher kam, um sich zu reinigen und über den dampfenden Steinen mit Jahwe zu kommunizieren, hingen von ihren Haken wie Kapitulationsfahnen. Das Badhaus war im Augenblick das trockenste Gebäude im ganzen Komplex und Mrs Noyes saß da und genoss die Gerüche von einstmaliger Sauberkeit und Zubern aus Zedernholz.
Etwas huschte vorbei und war nicht mehr zu sehen.
Ratten.
Aber Mrs Noyes hatte keine Lust, sich zu bewegen. Sie hatte keine Angst mehr vor Ratten. Jetzt war sie eine von ihnen.
»Vielleicht ist sie da hineingegangen…«
Es war Luci – gleich vor der Tür.
Mrs Noyes sprang hinter eines der aufgehängten Laken.
Ham trat als Erster ein, gefolgt von Luci.
»Nein. Hier nicht…«, sagte Ham.
»Irgendwo muss sie aber sein. Geh du in den Latrinen nachschauen, ich werde hier weitersuchen.«
Ham ging und sagte: »Bleib nicht zu lang! Vater macht sich sonst Sorgen.«
Nachdem Ham gegangen war, versuchte Mrs Noyes einen Augenblick die Luft anzuhalten. Aber es war unmöglich. Sie seufzte hinter ihrem Tuch, es kam einfach so aus ihr heraus.
Luci beschnüffelte die Luft und zählte auf: Seife und saubere Laken und Zedernholz…
Und Gin.
Durch eine Öffnung in ihrem Laken konnte Mrs Noyes sie beobachten, und einen entsetzlichen Augenblick lang drehte Luci sich um und schaute sie direkt an.
Mrs Noyes schaute zurück.
Dann marschierte Luci zur Tür und machte sie auf – und Mrs Noyes war sicher, dass sie gleich verraten werden würde.
Doch stattdessen trat Luci hinaus und gerade, als sie die Hand ausstreckte und die Tür hinter sich schließen wollte, steckte sie den Kopf noch mal herein und fragte: »Hast du deine Katze gefunden?«
Mrs Noyes sagte: »Nein.«
Luci sagte: »Gib nicht auf! Viel Glück!«
Und dann war sie weg.
Mrs Noyes sagte: »Danke.«
Jetzt blieb Mrs Noyes nur noch der Stall, um sich zu verstecken.
Über den Boxen waren die Namen der Pferde zu lesen: Lili, Betty, Tom und die anderen. Suse, Kaspar und Blackie. Und da waren die Verschläge, wo all ihre Lämmer geboren worden waren – ihr Kinderchor. Und der Verschlag für die Mutterschafe und die Box für die Widder – Altisten, Sopranisten, Bässe und Tenöre.
Ach, die Winterabende, die sie hier verbracht hatte – und die Sommernächte
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