Die letzte Generation
ausdrücken ließen. Man konnte nicht bestimmte Kurven zeichnen und endgültig feststellen: »Wenn diese Linie erreicht wird, bedeutet es Krieg!« Und man konnte nie vollständig so ganz unvorhergesehene Ereignisse berücksichtigen wie zum Beispiel die Ermordung einer Schlüsselfigur oder die Wirkungen irgendeiner neuen wissenschaftlichen Entdeckung – noch weniger Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Überschwemmungen, die eine tiefgreifende Wirkung auf viele Menschen und die sozialen Gruppen, in denen sie lebten, haben konnten.
Dennoch konnte man viel tun, dank den in den vergangenen hundert Jahren geduldig gesammelten Erkenntnissen. Die Aufgabe wäre unausführbar gewesen ohne die Hilfe der riesigen Rechenmaschinen, die in wenigen Sekunden die Arbeit von tausend rechnenden Menschen verrichten konnten. Solche Hilfen waren bei der Planung der Kolonie in höchstem Maße benutzt worden.
Trotz allem aber konnten die Gründer von Neu-Athen nur den Boden und das Klima bereitstellen, in dem die Pflanze, die sie heranzuziehen wünschten, vielleicht zur Blüte kommen würde. Wie Salonion selbst bemerkt hatte: »Wir können des Talents sicher sein; um das Genie können wir nur beten.« Aber es war eine vernünftige Hoffnung, daß in einer so konzentrierten Gesellschaft irgendwelche interessante Reaktionen erfolgen würden. Wenige Künstler gedeihen in der Einsamkeit, und nichts ist anregender als ein Meinungsstreit bei ähnlichen Interessen.
Bisher hatte dieser Zusammenprall nennenswerte Ergebnisse auf dem Gebiet der Bildhauerei, der Musik, der literarischen Kritik und der Filmproduktion erbracht. Es war noch zu früh, festzustellen, ob die mit historischen Forschungen beschäftigte Gruppe die Hoffnungen ihrer Begründer erfüllen würde, die offen danach strebten, den Stolz der Menschheit auf ihre eigenen Leistungen wiederherzustellen. Die Malerei kränkelte noch, was manche in ihrer Ansicht bestärkte, zweidimensionale, statische Kunstformen hätten keine weiteren Möglichkeiten.
Es war bemerkenswert, obwohl man eine befriedigende Erklärung dafür noch nicht gefunden hatte, daß Bewegung eine wesentliche Rolle bei den erfolgreichsten künstlerischen Schöpfungen der Kolonie spielte. Selbst die Plastiken waren selten unbeweglich. Andrew Carsons aufsehenerregende Formgebilde und Bögen veränderten sich langsam, während man sie betrachtete, gemäß verwickelten Mustern, die der Geist anerkennen konnte, auch wenn er sie nicht völlig verstand. Tatsächlich beanspruchte Carson, mit einiger Berechtigung, die »Mobiles« des vorigen Jahrhunderts zu ihrer letzten Vollendung gebracht und auf diese Weise Bildhauerkunst und Ballett vermählt zu haben.
Die musikalischen Experimente der Kolonie beschäftigten sich zum großen Teil ganz bewußt mit dem, was man »Zeitspanne« nennen könnte. Welches war der kürzeste Ton, den der Geist erfassen konnte, oder der längste, den er ohne Langeweile zu ertragen vermochte? War das Ergebnis durch Variationen oder durch die Anwendung einer geeigneten Instrumentierung zu verändern? Solche Probleme wurden endlos erörtert, und die Auseinandersetzungen waren nicht nur akademisch. Sie hatten zu mehreren interessanten Kompositionen geführt.
Aber die erfolgreichsten Experimente hatte Neu-Athen in der Kunst des Zeichenfilms mit seinen grenzenlosen Möglichkeiten gemacht. Die hundert Jahre seit Disneys Zeit hatten auf dem Gebiet dieses nachgiebigsten Kunstmittels noch vieles ungetan gelassen. Von den strengen Realisten konnten Ergebnisse erzielt werden, die von echten Fotografien nicht zu unterscheiden waren, sehr zur Verachtung aller, die den Zeichenfilm auf der abstrakten Linie weiter entwickelten.
Die bisher untätigste Gruppe der Künstler und Wissenschaftler erregte gerade das größte Interesse und die größte Beunruhigung. Diese Arbeitsgruppe befaßte sich mit der »völligen Identifikation«. Die Geschichte des Films lieferte den Schlüssel zu ihren Unternehmungen. Zuerst der Ton, dann die Farbe, dann der stereoskopische Film, dann Cinerama hatten das alte liebe Stumm– »Kintopp« mehr und mehr der Wirklichkeit gleich gemacht. Wo war das Ende davon? Sicherlich würde die Endstufe erreicht sein, wenn das Publikum vergaß, daß es Publikum war und an der Handlung teilnahm. Um das zu erreichen, mußten alle Sinne angeregt werden, und vielleicht mußte man sogar Hypnose anwenden, indessen viele hielten es für möglich. Wenn dieses Ziel erreicht war, würde es eine ungeheure
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