Die letzte Hürde
Bille setzte sich neben ihre Mutter, nahm aus Onkel Pauls Hand das gefüllte Weinglas entgegen und stieß mit beiden an. Sie trank ein paar Schluck , der Wein war köstlich frisch und herb, Bille lehnte sich aufatmend zurück. Mutsch faßte schweigend nach ihrer Hand und sah sie lächelnd an. Keiner sprach ein Wort.
Es ist gut, so ein Zuhause zu haben, dachte Bille, was auch passiert. Eltern, mit denen man sich so versteht, da kann es nie ganz schlimm werden, das ist wie ein Sicherheitsnetz beim Trapez! Wenn sie an die vielen aus dem Internat dachte, die Probleme mit Vater und Mutter hatten! Die waren nur von einem Gedanken erfüllt: nichts wie weg aus der elterlichen Wohnung, so schnell wie möglich! Denen graute es vor den langen Ferien mit der Familie. Nein, sie hatte allen Grund, rundherum zufrieden und dankbar zu sein. Und schon schien alles wieder leichter, die Trennung von Simon, das Abitur, die berufliche Zukunft. Die Welt stand ihr offen, sie brauchte nur zuzupacken und etwas aus all den Möglichkeiten zu machen, die sich ihr boten! Alle Schwierigkeiten, alle Hürden auf dem Weg zum Erfolg würde sie so locker nehmen wie Black Arrow das M-Springen auf dem letzten Turnier, bei dem er auch im zweiten Stechen mit einem Null-Fehlerritt geglänzt und gesiegt hatte. Das schien ihr jetzt wie ein Symbol. Wenn Simon wochenlang fort sein würde, was machte das schon! Sie war ja nicht allein, sie hatte Black Arrow und Zottel, ihre besten Freunde! Wovor fürchtete sie sich?
Doch als Bille am nächsten Morgen half, Feodora und Jamaika für die große Turnier-Reise zu verladen, als Simon sie ein letztes Mal in die Arme schloß und an sich drückte, hastig und ein wenig nervös, denn alle anderen standen wartend da, war es ihr, als ob jemand den Boden unter ihren Füßen wegzöge.
„Tschüs, du, mach’s gut. Und paß bloß auf dich auf!“ brachte sie nur heraus; ihre Stimme war heiser von hinuntergeschluckten Tränen. Bloß nicht losheulen jetzt, Bille! So etwas Blödes sollte ihr nicht passieren vor all den Zuschauern!
Sie wartete regungslos, bis der Transporter außer Sicht war, hob nur einmal flüchtig den Arm, um zu winken. Dann drehte sie sich um und lief zur Koppel hinaus, wo Black Arrow und Zottel Schulter an Schulter nebeneinandergrasten. Zottel hob den Kopf, er spürte sofort, wenn mit Bille etwas nicht in Ordnung war.
Bille streckte die Hand aus. „Komm her, mein Kleiner“, sagte sie leise.
Zottel schritt mit aufmerksam nach vorn gestellten Ohren auf Bille zu, sein Blick kam ihr wie der eines Menschen vor, liebevoll und fragend. Bille schlüpfte durch den Zaun auf die Koppel und hing gleich drauf schluchzend am Hals ihres Ponys.
„Ach Zottel, es ist so schrecklich! Ich halte es einfach nicht aus ohne ihn! Das ist ein Gefühl, als hätte mir jemand eine Seite amputiert. Dabei schäme ich mich so, weißt du, weil ich so egoistisch bin! Ich sollte mich doch mit ihm freuen. Und nicht so undankbar sein, ich habe schließlich euch und meine Arbeit hier. Ich weiß auch nicht, irgend etwas macht mir Angst, als ob etwas Schreckliches passieren könnte ... Warum müssen jetzt auch alle wegfahren! Bettina und Tom nach Griechenland, und Joy und Daniel sind auf Hochzeitsreise. Nächste Woche geht auch noch Florian mit Niko und ihren Eltern nach Irland, und ich? Ich hocke hier und arbeite!“
Zottel trat einen Schritt zurück, er fuhr Bille zart mit dem Maul über das tränennasse Gesicht, als könne er nicht glauben, was er da hörte. Dann blies er ihr die Haare aus der Stirn und gab ihrem Kinn einen kleinen Stups, als wolle er sagen: Kopf hoch! Nun laß dich bloß nicht hängen, wir werden hier auch unseren Spaß haben! Schließlich hast du doch mich! Bille mußte unwillkürlich lachen.
Hinter ihr kam Hans Tiedjen auf die Koppel; er trat heran und legte ihr den Arm um die Schultern. Billes tränennasses Gesicht entging ihm nicht, doch er verlor kein Wort darüber. Er zog sie ganz einfach an sich und hielt sie so lange fest, bis er spürte, daß sie sich gefangen hatte. Dann sah er sie lächelnd an. „Wir werden heute abend zusammen essen, Reiterlein, nur wir zwei, ganz gemütlich für uns. Es gibt so viel zu besprechen! Einverstanden?“
Bille drückte sich dankbar an ihn. „Einverstanden.“
Sommerfreuden
Hans Tiedjens Therapie war richtig. Als Bille abends bei ihm auf der Terrasse saß, liebevoll von ihm umsorgt, als sei sie gerade von einer schweren Krankheit genesen, löste sich ihre Verzweiflung auf
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