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Die letzte Kolonie

Titel: Die letzte Kolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Scalzi
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ließ ihn seine Toten begraben. Dann steckte ich ihn in eine Zelle, wo er hoffentlich lange genug weiterlebte, um schließlich Reue zu empfinden.
    Als du sechs warst, saßt du in der Schule und lerntest, zwei und drei zu addieren. Als ich sechs war, fand ich dich, beziehungsweise das, was noch von dir übrig war – der Rest war um dich herum verteilt, genauso wie das Wrack deines Schiffs und deine Besatzung. Du hast nur mit Hilfe von Glück, Willen und Technik überlebt. Eigentlich hättest du längst tot sein sollen, als wir uns begegneten, und du hättest kurz nach unserer Begegnung sterben müssen, in den langen Minuten, nachdem wir dich gefunden und bevor wir dich gerettet hatten.
    Ich erinnere mich, wie ich dein Gesicht berührte und dich anlog, dass mit dir jetzt alles in Ordnung wäre. Ich sah dich weinen und fragte mich, ob es gnädiger wäre, dich sterben zu
lassen. Aber ich hatte den Befehl, dich zurückzuholen, also tat ich es. Ich wusste, was es für dein Leben bedeuten würde, aber ich wusste nicht, was es für mein Leben bedeuten würde. Ich war sechs, als ich den Menschen traf, den ich lieben würde, und ich wurde der Mensch, den du erneut lieben würdest, der Mensch, aus dem ich gemacht wurde, dem du begegnetest, wie du mir sagtest, als du sechs warst.

    Bitte versteh mich nicht falsch. Ich will dich nicht herabsetzen, wenn ich sage, dass ich in einem Alter Soldaten angeführt habe, als du kaum deine Blase unter Kontrolle hattest, oder dass ich atemlos vor drei Monden stand, die über einem phosphoreszierenden Meer aufgingen, und mir die poetischen Worte fehlten, um das Lied meiner Augen mit dem Mund singen zu können, in einem Alter, als du den Geschmack von Klebstoff, Rotz und Münzen erforscht hast.
    Du hast dir die Umstände deiner Geburt genauso wenig ausgesucht wie ich, und dein Leben ist nicht mehr oder weniger vollständig, weil du zwei Jahrzehnte brauchtest, um erwachsen zu werden, und noch einmal mehrere Jahrzehnte, um Soldat zu werden. Ich war beides, von dem Moment an, als ich erstmals die Augen öffnete. Ich will dich nicht demütigen, wenn ich einräume, dass ich die Vorstellung recht amüsant finde, dass du einst ein Kind warst, dass du mir nur bis zur Hüfte gereicht hättest, du mit großen Kinderaugen, du mit riesigem Kopf auf wackligem Hals, wie du die Welt voller Neugier, aber ohne Verständnis betrachtetest, wie du Jahre brauchtest, um genug zu wissen und zu erkennen, wie wenig du weißt.
    Ich benenne diese Unterschiede, weil sie zwischen uns stehen. Wenn du vom Erwachsenwerden und vom Altwerden
sprichst, sprichst du zu jemandem, der Ersteres nie erlebt hat, und sich entscheiden kann, Zweiteres nicht zu fürchten. Jeden Tag meines Lebens vom ersten bis zu diesem verbrachte ich in einem Körper, der sich Wachstum und Verfall entzieht, auch wenn ich eines Tages dem Tod nicht mehr trotzen kann. Er ist nicht ewig, aber er ändert sich nicht, und wenn ich will, kann ich so lange darin lebe, wie es mir gelingt. Ich bin auf meine Weise zeitlos, widerstehe sowohl der Schöpfung als auch der Zerstörung und bin dadurch vom menschlichen Lauf des Alterns losgelöst – von dem Bogen, der sich von der Entwicklung zum Zerfall spannt, der deine Tage definiert, der das Gefühl für Geschichte vermittelt und die Gewissheit, dass alles seine Zeit und alles irgendwann ein Ende hat, genauso natürlich und vollkommen wie der Anfang.
    Wenn du von deiner Kindheit sprichst, höre ich dir zu wie ein Blinder, dem die Farbe einer Blume oder die Augen eines geliebten Menschen beschrieben werden. Ich verstehe, dass die Farbe existiert, ich verstehe die Emotionen, die eine Farbe auslösen kann, aber mir fehlt die Erfahrung, die Verständnis in Mitgefühl verwandelt. Es ist Verständnis ohne die Empfindung tief im Gehirn, wo die Freude daran einen erzittern lässt, bis in die letzten Nerven der Fingerspitzen.
    Die Kindheit ist ein unzugängliches und unbekanntes Land für mich, eine Region, die so weit von mir entfernt ist, dass ich nicht einmal sagen kann, mir wäre der Zugang verwehrt worden, weil sie etwas ist, das nie zu meinem Leben hätte gehören sollen. Es ist auch nichts, das ich mir wünschen würde, dessen Abwesenheit ich bereuen würde. Ich bin, wie ich bin, und das ist genug. Es ist einfach so, dass die Kindheit eine Erfahrung ist, die wir nicht machen, ein anderer Ort, zu dem unser Leben keine Verbindung hat, eine Gemeinsamkeit, die wir nicht
haben. Wenn ich mir dich als Kind vorstelle,

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