Die letzte Kolonie
amüsiert es mich, und es macht mich traurig, dass es dir nicht gelingt, genauso von mir zu denken.
Ich bin neun Jahre alt. In diesen neun Jahren habe ich mehr Dinge gesehen als andere in ihrem ganzen Leben. Ich bin weiter gereist als die Entdecker ganzer Jahrtausende. Ich war auf mehr Welten, als sich die Menschen während der längsten Zeit ihrer Geschichte vorstellen konnten, dass diese überhaupt existieren, wenn sie zu den Sternen aufblickten. Ich habe ein Leben geführt, das sich weder in Teelöffeln noch in Schöpfkellen ermessen lässt, weder in Krügen noch in Eimern, sondern in überwältigenden Sturzbächen der Erfahrung, die mich hineinstießen ins Erstaunen, in den Schrecken und ins Sein.
Ich bin neun Jahre alt, und ich habe in jedem Augenblick dieses Lebens gelebt. Keine mit Müßiggang oder Sinnlosigkeit verschwendete Zeit, keine Routine oder Wiederholung, keine Tretmühle und kein Abwarten. Du kannst nicht behaupten, ich hätte weniger gelebt als jene, die lediglich länger gelebt haben.
Es spielt auch keine Rolle: All diese Erfahrungen ändern nichts daran, wie ich gesehen werde – wie wir alle gesehen werden, wir, deren Leben in medias res begann. Ich bin neun Jahre alt und muss so sein, wie Neunjährige in ihrer Erinnerung sind, bestenfalls ein weiser Idiot, ein nützlicher Dummkopf, ein kleines Mädchen im Körper eines großen Mädchens.
Jene, die mich nicht herabsetzen, fürchten mich – mich und meinesgleichen. Wir werden zu schnell erwachsen, wir wurden zu intelligent gemacht, sind zu weit von ihrer eigenen Erfahrung entfernt, um uns verstehen zu können, angeblich
ohne jede Moral, weil sie im gleichen Alter noch keine Moral kannten. Wir werden losgeschickt, um Dinge zu tun, die sie für notwendig halten und selbst nicht zu tun wagen – schön, dass man uns mit Aufgaben betraut, die uns die Seele kosten könnten, obwohl wir doch angeblich gar keine Seele haben. Wir lernen schnell, diese Furcht und Dummheit der Mehrheit der Menschheit nicht zum Vorwurf zu machen, weil die Alternative darin bestünde, euch alle sterben zu lassen.
Als ich damals entschied, dich zu lieben, musste ich wissen, wie du mich sehen würdest. Ob du wie so viele andere nur ein Kind in einem übergroßen Körper siehst oder jemanden, der dir in allem ebenbürtig ist, abgesehen von der Zeit. Ich wartete auf den Moment der Herablassung, der beiläufigen Abweisung, auf den Augenblick, in dem du fragst, was ich eigentlich wissen kann, weil ich nur so kurze Zeit gelebt habe.
Ich warte immer noch, aber ich rechne nicht mehr damit, dass dieser Moment kommt. Du bist nicht blind für mein Alter oder unsere Unterschiede; du weißt besser als jeder andere, wie kurz meine bisherige Existenz war, weil mein Leben erst beginnen konnte, nachdem ihr Leben vorbei war. Vielleicht siehst du mich als Fortsetzung eines unterbrochenen Lebens, oder vielleicht ist es dir egal, und ich bin für dich einfach nur gleichwertig, weil es keinen Grund gibt, es anders zu sehen. Ich habe noch viel Zeit, es herauszufinden, während unser Leben weitergeht, und wir messen die Zeit nicht an dem, was vorher war, sondern an dem, was wir gemeinsam haben.
6
Sex
Ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich sitze mit dir zusammen, und du sprichst zu mir, erzählst mir von der Welt, zu der wir aufbrechen werden, wo du und ich ein gemeinsames Leben beginnen werden. Ich bin mir sicher, dass es von großer Bedeutung ist, was du sagst – wichtige Dinge, die ich wissen muss, über eine Welt, auf der ich niemals war, wo ich aber den Rest meiner Tage verbringen werde. Ich bin mir sicher, dass du mir Dinge sagst, die ich mir anhören sollte, aber ich muss gestehen, dass ich kein einziges Wort verstehe.
Stattdessen konzentriere ich mich auf dein Gesicht, auf die Bewegungen deiner Lippen und auf die Erinnerung, wie sich diese Lippen anfühlen, wenn sie mich berühren. Während du sprichst, denke ich daran, wie wir uns das letzte Mal geküsst haben, und an die leichte Reibung, die dabei entstand, weil wir nicht ganz synchron waren. Ich denke daran, wie das Blut in unsere Lippen strömte, um sie weicher zu machen, und wie uns wieder bewusst wurde, wie viele Nervenenden miteinander Kontakt aufnahmen.
Deine Worte treffen auf Ohren, die nicht taub, sondern nur desinteressiert sind, denn obwohl alles, was du sagst, wichtig für mich ist, weiß ich, dass ich dich dazu bringen kann, es jederzeit noch einmal für mich zu wiederholen. Du wirst mir diesen Gefallen tun. Also
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